Weimar
Kindheit bis zur Einschulung
Die Töpfergasse
Marie Möller (Frau Wolter) holt ihre
Eltern aus der Weimarer Töpfergasse in den Bayrischen Hof (Goslar)
und stellt Vati und Mutti diese Wohngelegenheit in der Töpfergasse
zur Verfügung.
romantische
Gasse am Stadtrand, Rotlichtmilieu, später unter Hitler abgerissen;
es ist das Haus vom “alten Möller” dem Vater von Marie Wolter;
er ist "Beamter", Mutti sagt er “fährt Scheiße”
es gibt noch
keine WCs – nur “Plumpsklos” (Annemarie kann das Plumpsen
hören), man wischt sich mit Zeitungen; die Fäkalien werden von der
Stadt mit Wagen wegtransportiert (von “Beamten”)
Aufpasser
Würzbacher, isst mit Hunden und Katzen am gleichen Tisch;
Töpfergasse
daneben ist ein
Bordell (ein “schönes, großes Haus”); [ihre Cousine] Lotti und
sie beobachten Prostitutierte und imitieren sie, ahmen sie nach,
hängen sich Gardinen um und warten auf "Freier"; als Tante
Klara [Lottis Mutter] davon erfährt sagt sie zu Lotti: "Du
gehst da nicht mehr hin!"
Bruno
Voigt: Töpfergasse Weimar 1932
sie und [ihre
Cousine] Lotti sind “wie zwei Schwestern”; gestrickt und gespielt
oft mit
Fräulein Lili (Edelprostituierte ?) gesprochen
Wollter meine blauen Flecke sehen?
Sie zeigt den Leuten ihre blaue
Flecken: “Wollter mal sehen, wo meine Mutti mich gehauen hat?”.
Die Leute sind wütend auf Mutti. Mutti hat sie verhauen, danach tut
es ihr furchtbar leid.
Sie rollert zwischen die Pferde
Vor dem Haus gerät sie mit ihrem
Roller zwischen die Pferde. Die Pferde haben Heusäcke zur Fütterung
um, heben ihren Kopf und prusten Sand aus den Nüstern: Sie hat viel
Angst – Mutti denkt schon, sie sei tot.
In Muttis
Worten: “Großer Gott! Was ich mit der alles erlebt habe! Viel
Freude, aber auch viele [Unglücke], dass sie gefallen ist. Sie war
ja so wild – wie 'n Junge. Puppenwagen? Den gab se 'n Kindern. Und
die rollerte lieber. [Einmal ist sie] in die Pferde; reingerollert!
Und dann lag se dazwischen; wenn das Pferd getreten hätte, war se
weg! Und dann ein Schreien! Und ich gucke aus'm Fenster – und sie
liegt dazwischen! Ach tu großer Gott! Und dann gleich runter. Und
nun konnten die ja nich' beißen, weil se so'n Fresskorb zum
Haferfressen umhatten. Und das war ja nun 'n Glück!”
Sie versilbert Muttis Pompadour
Beim Lumpenhändler am Stadtrand
“versilbert” Annemarie Muttis Tasche, eine wertvolle Perlen
Pompadour [beutelartige Damenhandtasche für den Theaterbesuch]
20 Pfennig
bekommen, zum Muttertag eingekauft, um Tisch zu schmücken
(Apfelsinen, etc.), Mutti: “Annie, wo haste das Geld her?”,
gleich zum Lumpenhändler geflitzt – “hatter nich mehr...”
Schlittschuhe gekauft
Sie isst Pferdewürstchen
Mutti erzählt:
“Und in Weimar, das war vor der Einschulung: Sie rief immer von
unten: 'Mutti, wirf mir mal 'n Sechser [5-Pfennig-Münze]
runter!' Ich sare: 'Nee, warum? Wozu?' Ich wusste ja, sie aß
keine Bonbons und so. 'Ja. Du wirst schon sehen! Wirf mal 'n Sechser
runter! Mutti, tu mir den Gefallen!' Na gut. Eingewickelt und 'n
Sechser runtergeworfen.
Na, 's dauerte
nich lange, da rief se: 'Mutti! Guck mal raus! Was ich gekauft habe!'
Dann macht 'se immer 'hi hiii, hi hiii' – Pferde, nich,
Pferdewurst. Die andern Kinder ja auch. Die kauften da immer – Bach
hieß der Fleischer – der wohnte nich weit von uns [nicht weit auch
vom Lumpenhändler], und die aßen da...; für
5 Pfennig kriegste ne Bockwurst – Pferdefleisch. In Goslar ja auch.
Fohlenfleisch – das kauften se wie verrückt hier. Fohlen ist das
Kind vom Pferd. Ja, schrecklich! Zuckerkranke dürfen nur
Pferdefleisch. Deswegen wird das so viel verkauft.
Und
nun stand se da. Und ich sare: 'Freundchen!' Ich ekelte mich da nun.
Ich sare: 'Komm du man rauf! Du kriegst nie wieder 'n Küsschen von
Mutti!' 'Das schmeckt aber gut! Mm! Das schmeckt ja so herrlich!'
Nun..., weil die Kinder das auch alle aßen.Sonst hat se sich ja
nichts aus Essen gemacht. Wenn ich 'n Kind mit raufnahm – hatt ich
ja öfter – damit sie Appetit kriegte; und das Kind, das aß denn
und sie guckte und sagte: 'Gell, das schmeckt aber gut! Du musst
tüchtig essen, damit du groß und stark wirst!' Ich sare: 'Und du?'
'Ach Mutti, ich hab kein' Hunger! Ich kann wirklich nich essen,
Mutti!' So war das immer. Was woll'ste dagegen machen?
Kakao,
ging se auch nicht ran. Macht' ich für se Malzkaffee: sie trank
'Kaffee'! Und die [andern] Kinder tranken dann Schokolade – Kakao.
Ich habe se können nich rankriegen für so was. Man musste se gehen
lassen, dass se wenn se Hunger hatte denn was aß, 'n Butterbrot, am
liebsten nur 'n Butterbrot und ne Tomate – so was..., oder 'ne
Gurke.”
Sie füttert Sherry und Purzel
Mutti erzählt:
“Und dann Tiere! Da war so'n Judenehepaar. Und die Frau wollte
meine Annie haben. Die waren – wie nannte man das? – Lumpen,
Knochen, Eisen. Aber waren reich, hatten 'n wunderbares Haus. Wo wir
wohnten, da musste man dann 'ne Ecke gehen. Der Willy kannte die ja
auch – sogar sehr gut. Sie war auch 'ne hübsche Frau, er 'n
hübscher Kerl. Nun hatten die keine Kinder. Sie hatte 'ne Tochter
gehabt, die war verunglückt. Und meine Annie, sagte se, sähe ihrer
Tochter so ähnlich. Hat se direkt mich jefragt – er auch – ob se
nich adoptieren könnten.
Und die hatten
zwei wunderhübsche Hunde, Sherry und Purzel, zwei Kurzhaarterrier.
Und bei mir fehlte 's nun zuhause: mal fehlte Gehacktes, mal
Brötchen. Und wir wohnten direkt so, dass der Tisch ans Fenster
ging; wenn de das Fenster aufmachtest war da – wie der Dachgarten.
Und da kam immer 'ne Katze hoch. Und sie [Annie] erzählt mir dann,
die Katze hätte das geholt [das Gehackte und die Brötchen]. Und ich
hab jeglaubt. 'Mein Gott', sar' ich, ausgerechnet, wenn ich nich da
bin! Das Fenster soll ja auch zu sein, nich aufgemacht werden!' Na
ja. 'Die arme Katze! Die war aber am Verhungern!', sachte se dann.
Na ja. Jetzt
fing's an, fehlten mir de Brötchen. Die wurden anne Tür
drangehängt, da musst' ich drei Stufen ungefähr runter, vom Zimmer
aus, und da hing der unten immer 'de Brötchen dran. Ich denke,
Mensch, hier, das gibt's doch nich! Die Brötchen muss doch denn
jemand klauen. Die kann ja nun de Katze nich rausholen – auf'm
Maul. Von wejen de Katze jeklaut! Hier..., das stimmt doch gar nich!
Ich sare: 'Das kann ja nun nich stimmen, nich, mit deiner Katze! Du
spinnst wohl hier! Ne Katze..., und Brötchen holen. Ja, son 'ne
Katze gibt's nich – und die mögen auch keine Brötchen!' Das fand
se v'lleicht auch 'n bisschen komisch – sie war ja so helle!
Ich geh auf die
Straße raus. Ich denke, sollte v'lleicht der [Bursche] die verloren
haben? Jetzt guckt da Frau Wölwer [?] aus'm Fenster. Und da sacht
se: 'Frau Scholz, suchen se was?' Ich sare: 'Ja..., ich suche meine
Brötchen.' 'Ach tu großer Gott! Brötchen jetz' auch schon!' 'Wieso
auch schon?' 'Na..., Frau Scholz, geh'n se ma' jetzt hier runter, die
Straße. Ihre Annie is noch nich da, nich?' 'Die is nich da.' 'Gehn
se ma' hier runter.' Und da is der Torwech [Torweg]. Der Torwech
gehört da hinten zu dem Haus von diesem Judenehepaar. Die hatten 'n
riesengroßen Hof, da war dann so'n Torwech nach der andern Seite
hin. 'Da', sacht se, 'da gehn se ma' hin, da wer'n se Ihre Annie
finden!' Ich denke, das ja komisch. Hat aber weiter nichts jesacht.
Na. Ich geh da
hin, gucke da unten rein in'n Torwech. Richtich! Inne Ecke da sitzt
meine Annie. Hat se hier'n Sherry und hier'n Purzel: 'Gell? Das
schmeckt euch aber gut! Ja. Ihr habt ja auch so'n Hunger! Nich? Ja,
ihr Armen! Wenn eure Annie nich wäre!' Und ich sare: 'Na, und wenn
deine Mutti nich hier wäre! Freundchen! Du hast denen jetzt die
Brötchen gefüttert.' 'Ah, Mutti! Bitte, bitte hau mich nicht! Die
ham ja solchen Hunger! Die wären ja verhungert, Mutti!' Ich sare:
'So siehste aus! Die verhungern im Leben nich. Die kriegen genuch von
den Leuten!' Ich sare : 'Und wo is mein Kottlett geblieben? Die Katze
hat das nich geholt!' 'Nein, Mutti. Deine Annie hat Sherry und
Purzel...; das hat aber gut geschmeckt. Mutti! Du musst mal sehen,
wie die sich gefreut haben!' Und so ging das nun immer. Ich sare:
'Meine Klopse auch! Haste auch gefüttert!' 'Ja Mutti. Bitte, bitte
schimpf nich! Hau mich auch nich! Wirklich, die haben großen, großen
Hunger gehabt!' So war se.”
Sie steht mit Fiffi am Fenster
mit Hund Fiffi
(erster Fiffi,) und Kissen am Fenster gestanden (Eltern im Kino; ich
bin ganz alleine), mit Leiter runtergeholt; Fiffi von Ehepaar
bekommen
Katzengeschichten
Katzen im
Kinderwagen
8 kleine
Katzen; Weg von Weimar nach Belvedere
ein Erlebnis:
Mutti ertränkt Kätzchen im Sack (da sie nicht weiß, was sie mit
ihnen machen soll); Annemarie ist dabei und versteht nicht, was das
bedeutet; Mutti sagt, die schwimmen jetzt dahin
ein Kater ist
böse, faucht; Tante Klara traut sich nicht nach oben
Sie ertrinkt fast im Ilmbad
Die Töpfergasse führt zum Städtischen
Ilmbad am Stadtrand (ein Freibad an der Ilm, am Elektrizitätswerk,
die Ilm fließt durch das Becken, es existiert nicht mehr).
dort ertrinkt
sie fast: Jungen reingeschubst, unter Wasser vom Nichtschwimmer ins
Tiefe geraten, schon blau, Vati vom Sprungbrett gleich reingesprungen
und gerettet
Ilmbad
in Weimar um 1920
Gräte im Hals – mit Vati zum
Krankenhaus
Mit Vati kullert sie die Wiese
hinunter
mit Vati
“Rolle, rolle, Röschen” [?] gespielt [ihr Spitzname ist
“Sonnenröschen”, weil sie immer lacht]; Wiese runtergekullert
Die Buhlers
Vatis Schwester Klara und ihr Mann,
“der Buhler”, wohnen in der Adolf-Hitler-Straße (früher
Bürgerschulstraße, heute Karl-Liebknecht-Straße; ihr Haus wird
später in DDR Zeit enteignet, nach der Wiedervereinigung bekommen
sie Geld).
Klara Buhler
macht Hutmacherei auf, die bald Pleite geht
Prinz Huschli Zumandri
Klara zieht
auch einen kleinen Indonesier auf, “Prinz Huschli Zumandri”
(verballhornter Name); der indonesische Vater hatte in Weimar
studiert und eine Holländerin kennengelernt, die er nicht heiraten
durfte; Klara (die mal ein Kind verloren hatte) zieht den kleinen
“bildhüb-schen” Jungen mit “abgöttischer Liebe” auf; sein
Vater kümmert sich nicht, aber schickt immer schöne Sachen; später
wird der Junge abgeholt und Klara (die wohl hoffte, noch was zu
“erben” [?]) hört nie wieder von ihm
einmal wollen
Buhlers im Hof ein Familienphoto machen; Annemarie will mit auf's
Photo, wird aber “weggejagt”; sie lässt sich jedoch nicht
einschüchtern
Im Kindergarten
10 Mark im
Monat; Tante Klara zu Mutti: “Du bist ja verrückt!”; mit
Schleife im Haar rausgeputzt
dann auch
Ballettstunden am Theater; Lotti ebenfalls; Ballettschuhe vergessen
Lotti hat Kopfsmjerzen
Mutti erzählt:
“Die Lotti, meine Nichte da..., die sind ja –
zwei Jahr is die älter
[als Annemarie]: das Gegenteil! [Die war ganz ruhig?] Oh..., richtich
phlechmatisch. Das war die Erziehung war schuld dran, weil ihr Vater
war so, der Buhler. Er lag viel immer..., ich seh'n immer noch [vor
mir], die Arme verschränkt hier, und denn liegen, nich. Er war'n
Glatzkopf –
mein Vater hatte ja auch ne Glatze – aber er trug immer so'n Käppi,
wie's die Juden und diese Muslims auch tragen, so'n Käppi, weißte.
Angeblich hatte er immer Angst, dass er sich erkältete. Ich sare:
'Die Glatze erkältet man sich nich so schnell.' ...Glatzmann der.
Na
ja, jedenfalls dann musste seine Lotti, die lach denn auch immer da.
Und wenn Annemarie..., die ärgerte sich denn, die wollte mit ihr
spielen, ne...; nun gingen se ja beide zur Schule –
Annemarie nich, aber die
ging zur Schule, war ja zwei Jahr älter,
oder ein [Jahr]. Na, und denn ärgerte sich Annemarie, dass se schon
wieder dalag und immer, wenn wir kamen, dann sagte Annemarie:
'...immer bloß schlafen!' Na, schlafen tat se ja nun nich. Und: 'Geh
weg! Ich habe Kopfsmjerzen.' Schmerzen konnt'se nich sagen.
'Smjerzen', 'Kopfsmjerzen', nich. Und Annemarie –
die war ja nun 'n Aas – denn hat se se nun gerüttelt:
'Los! Steh auf! Wir woll'n spielen.' Und: 'Ich habe meinen
Puppenwagen draußen, den kriechste auch! Komm her!' Und er denn:
'Lass das Kind gehen! Lass das Kind zufrieden! Die muss jetzt Ruhe
haben. Das Kind hat Kopfschmerzen!' Und die Annemarie, die war nun
ganz anders. Aber sie [Lotti] hat Annemarie furchtbar gern. Die
mochte se gern.”
Vati ab 1933 arbeitslos
arbeitet in der
Saison als Aushilfskellner
[Vati nimmt
eine Stellung in Sorau an; Mutti und Annemarie wohnen zeitweilig bei
Buhlers in Oberweimar (?)]
“Meine Mutti hat Nasenbluten”
Mutti erzählt:
“Ich fuhr mit der [Annemarie] im Zuch nach Sorau. [In Weimar] da
wohnt' ich bei Buhlers, bei denen, bei Lottis Eltern da, bei seiner
[Vatis] Schwester [Klara] da, oben in Weimar –
Oberweimar. Mir passte das da nich. Ach ich weiß
auch nich; war alles nich so wie's sein sollte. Und da hab' ich ihm
[Vati] geschrieben, auch denn einmal telefoniert. Und da sagt er
auch: 'Kommt doch! Kommt doch mal her!'
Nun
musste mal denken
– das viele Fahrgeld! Sorau [heute
Żary in Polen]
– das ist Niederlausitz. Und dieses Weimar! Was das Fahrgeld allein
kostet, na ja. Jedenfalls er wollt's haben. Und bin ich auch
hingefahren. Da hat er ja auch 'n Zimmer für
uns besorgt. Da bin ich denn auch geblieben. War sehr, sehr teuer,
das Zimmer! Riesengroßes Zimmer –
war wunderbar, toll!
Na,
und wir fahren im Zug. Ich kann dir sagen, da hab ich ja viel erlebt!
Die [Annemarie] war immer unterwegs, auch im Zug. Gleich nebenan da
spielten die Männer
Karten. Da stellte se sich dann bei –
war se schon wieder Hahn im Korbe [Mittelpunkt]. Und ich hatte meine
Periode. Ach Gott, ach Gott. Ich hatte meine Periode. Und ich mochte
gar nicht aufstehen. Und ich glaube, man konnte auch hinten.., war
was durchgekommen, 'n Fleck, oder wie. Na ja, und denn wollte se aber
durchaus, ich sollte hinkommen, bei den Männern
da kucken, nich. Ich traute aber mich nich hin! Ich dachte, oh Gott,
du stehst gar nich auf. Kannste doch nich machen. Ich sare: 'Ja,
gleich. Ich komme gleich!' Und wollte erst dann da zur Toilette. Und
da sagt se denn so: 'Ja', sagt se, 'meine Mutti kommt gleich. Meine
Mutti hat aber Nasenbluten jekriecht. Muss se sich den Fleck erst
wegwaschen.' Oh ich habe mich geschämt –.
[Und die
haben das verstanden?] Na sicher ham die das jewusst! Nasenbluten –;
die haben doch gesehen, wie ich da hinjegangen bin zur Toilette, ne.
...und hat mich so blamiert da...
“Der
is aber schöner
als Sie!”
[Fortsetzung
von oben] “Und denn saß
ich da, unterwegs..., da mussten wer umsteigen. Das war'n Friseur.
Na, das war ja auch'n Klapsmann! 'n Friseur, 'n Witwer. Und der war'n
bißchen..., der war nun scharf auf mich, verstehste? So'n
Verrückter, so'n Halbverrückter, [so] habe ich ihn eingeschätzt.
Und meine Annie saß auch mit da. Und so'n Kind hat das Gefühl
dafür, nich. Und ich dachte immer, Mensch dieser verrückte Kerl!
Wenn der dich... Und sie kuckt immer nach dem hin, nich, und
beobachtet den, kuckte mich denn wieder an. Ich denke, mein Gott! Ich
sach: 'Kucken se mich doch nich immer an hier! Die Kleine wird ja
schon ganz aufgerecht –
um Gottes Wille!' 'Ja', sacht er, 'is ja komisch! Merkt die denn
das?' Ich sare: 'Na hören se mal. Das is ja wirklich allerhand!' Sie
hört denn das und sagt: 'Ja, meine Mutti, die is geheiratet.' –
statt verheiratet – 'Die is geheiratet. Wir fahren jetzt zu unserm
Vati, nich Mutti? Aber..., der is aber schöner
als Sie sind! Der is aber schön!' 'Ja, ich bin wohl nich schön'
'Nehehehe! Neee...', macht se, 'Mutti!? Nee...' Sachte der: 'Das 's
aber ne Schlaue!' Ich sare: 'Ja, is auch ganz gut, dass se so is...'
'n Bärenheft war das!”
Einschulung in Weimar
mit Mutti
und Vati vor dem Buhlerschen Haus nach ihrer Einschulung
Schul Rektor in
brauner Nazi Uniform (1934?), nur halbes Jahr in dieser Schule
Vati arbeitet in Altenbrak
[Vati nimmt Stellung an im Hotel
Brauner Hirsch in Altenbrak (Thale) bei Blankenburg (Harz)]
Sie zerschneidet sich die Pulsader
Bei einem Besuch in Altenbrak
zerschneidet sie sich Pulsader und Sehnen, als sie beim Blumentragen
(Blumen "am Verdursten"), mit der Kristallvase hinfällt.
Vati verbunden
[?], Schlüssel zu Verbandskasten nicht gefunden, (Hotel Brauner
Hirsch, wo Vati gearbeitet hat), Operation in Blankenburg; im
Krankenbett drei Krähen gesehen, die sie auffressen wollen
Mutti erzählt:
“Sie war äußerst
intelligent. Altenbrak bei Blankenburg [war das], wo se hingestürzt
is mit der Blumenvase. Hatte sich die Pulsadern und Sehnen
aufgeschnitten. Da fuhren wer hin, weil der Schulrektor und der
Schularzt das haben wollten. Hatte se so'ne Sehnsucht nach ihrem
Vati. Sie war so eingestellt... –
nun verstand er [Vati] ja auch mit ihr umzugehen..., großartig
–
mit andern Kindern ja auch; die Klara die war auch so. Die hatte das
auch in sich, so
–
, das ist irgendwie ne Gabe.
Und
wir fuhren dahin. Nun pass auf: Da musst ich zur Schule kommen. Also
ich kriegte'n Zettel. Also 's fing zu Hause so an: Annemarie schlief
zu Hause allein und hatte denn 'n Photo von ihrem Vati übers
Bett..., hängen, mit Heftzwecken..., hat se sich angemacht. Und das
erste Jahr war das, wo se in de Schule reingekommen war. Und er
[Vati] kam nach Altenbrak [am Harz] hin. Das war ja Arbeitslosenzeit;
er war doch froh, dass er da hatte Stellung angenommen. Hinter
Blankenburg war das. Und nun war der Vati weg. Und meine
Annemarie..., da dacht' ich immer, was hat die denn bloß? Und
abends, wenn se ins Bettchen ging, da hört ich se denn: 'Gell, Vati,
deine Annie schläft jetzt, Gute Nacht, Vati! Du gehst jetzt auch
schlafen.' Und so ging das immer. Ich sare: 'Menschenskind! Was'n
bloß mit dir los?' 'Na Gott, Mutti, ich muss doch'm Vati Gute Nacht
sagen!' und so. Ich sare: 'Nu, is gut.' Aber essen [wollte se] fast
gar nich mehr.
Und
dann kriegte ich mit einem mal 'n Brief mit, ich sollte zur Schule
kommen. Und da bin ich je denn auch hin, Und was denkste, was da war?
Mir sagt der Lehrer: 'Tja, Frau Scholz, ich wollte Ihnen nur sagen;
die Annemarie, wissen se Frau Scholz..., Ihr Mann is wohl nich zu
Hause?' Ich sage: 'Na, mein Mann is weg in Stellung –
ja, außerhalb.'
'Ja, das hat mir Ihr Töchterchen gesagt. Das weiß ja die ganze
Klasse hier!' Und da sagt er: 'Ja, Frau Scholz, und der Schularzt hat
festgestellt, dass se vollständig unterernährt ist.' Ich sare: 'Ja,
was is'n das, unterernährt?' Wusst ich nich mal, was das war –
der Ausdruck 'unterernährt'.
Ich sare: 'Ja, wie meinen se'n das?' 'Sie ist zu dünn!' Ich sare:
'Mein Gott! Wenn se nichts isst!? Sie isst ja kaum was. Und wenn se
was isst, sie isst ja nichts was dick macht.' 'Tja', sagt er, 'ob das
nich 'n andern Grund hat?' 'Ich sare: 'Was denn? Wie 'n andern Grund?
Wie meinen se'n das? Die ist doch nich krank?' 'Nein, aber seelisch
krank.' Ich sare: 'Meine Tochter seelisch krank?' 'Sagen se mal,
hängt die sehr an Ihrem Mann?' Ich sare: 'Na klar. Das tut se.' 'Ja,
die schreibt ja auch, schreibt Briefe. Die verkauft se an die
Kinder.' Ich sare: 'Meine Annie?' 'Ja. Zettel.' Ich sage: 'Und die
verkauft se. Was schreibt se denn da?' 'Die schreibt von Ihrem Mann
auf. Dass Ihr Mann weg ist. Die hat große Sehnsucht nach ihrem
Vater.'
[Annemarie
und Mutti gehen dann noch einmal zusammen zum Lehrer. Der fragt
Annemarie, ob sie verreisen möchte –
nach Altenbrak. Annemarie sagt:] 'Nein, das könn'n
wer doch nich! Sie sagen doch immer, ich hab ne Saupfote [schlechte
Handschrift]!' Ich sare: 'Wie?!' 'Ja', sagt er, 'das habe ich schon
gesagt. Das stimmt.' [Sie sagt mir immer:] 'Aber Mutti, ärgere dich
nich. Meine Saupfote die wird schon wieder gut werden, nich?!' 'Ja',
sagt er, 'sehn se –
so isse nun, das's de Annemarie! Ja, das wird schon besser mit deinem
Schreiben. –
Ja, ich würde Ihnen raten hinzufahren!' 'Nach meinem Vati?' sagt se.
'Das darf ich?' 'Ja, das darfste! Du holst das nach. Du bist
intelligent! Du bist doch fleißig?' 'Ja, das bin ich. Ich hole alles
nach.' sagt se.
Na
gut. Wir gehn nach Hause. Ich sare: 'Ja woll'n wer denn?' 'Sofort!'
sagt se, 'Mutti, wir fahren sofort!' Ich sare: 'Das könn'n wer ja
nun nich!' Meine Schwiegermutter –
ich kuck am Fenster, vormittags
–
meine Schwiegermutter, die kam da und saß
da unten auf der Bank in den Anlagen –
ich denke, jetzt gehste mal runter und sprichst mal mit ihr, was die
so sagt. Na, meine Annemarie, wir gehen runter, und da sagt se schon:
'Omi, Omi, wir fahren nach'm Vati, wir fahren nach'm Vati!' 'Du aber
nich!' sagt se, die Omi nun. 'Du fährst
nich mit. Dann lass deine Mutti allein fahren. Du bleibst bei mir.'
'Hier... [sie zeigt ihr einen Vogel]', macht se zu ihr. 'Was?' sagt
die. 'Das machst du zu deiner Omi?' 'Omi, ich fahre zum Vati hin!'
'Nein', sagt se zu mir, 'das machste nich. Lass das Kind bei mir,
nich!' 'Mutti, gell das machste nich, nich? Du fährst doch mit
deiner Annie! Nein, Omi, ich bleibe nicht bei dir!'
Na,
und nun ging das los: 'Na, dann biste nich mehr meine Annerl, du bist
dann nich mehr mein Annerle!' 'Egal, ich fahr zum Vati. Ich sag auch
schöne Grüße von dir.' Und die war wütend, nich. Erstmal, sie
hatte se gern, nich, so um sich, und mochte se gern und wollte se nun
gern behalten. Und auch wegen hier, wegen Pulver [Fahrkarte zu
teuer?]. Und da hat se Anne-marie noch versprochen: 'Ich kauf dir
auch was Schönes!' Nein, sie wollte nichts haben. Sie wollte zum
Vati. Na, nun war die Sache erledigt; hab ich gesagt, wir fahren.
Hingeschrieben
und er [Vati] telefonierte gleich, da musst ich denn auch
rüberkommen, da wo er anrufen konnte, da die'n Telefon hatte [die
Nachbarin]; sagt se: 'Ihr Mann is am Apparat, Frau Scholz!' und ich
soll mal dran kommen, bin ich auch gleich hin. Sagt er: 'Sofort
kommste her mit'er Annemarie! Ich mache euch gleich'n Zimmer aus.
Dann kommste her, nich!'
Na,
ich mit meiner Annemie losgejockelt. Jetzt mussten wir von
Blankenburg mit'em Bus noch'n Stück fahren –
als wenn de von hier [Goslar] nach Jürgenohl
mit'm Bus fährst. Und sie steht nun so inner Mitte vom Bus, 'n
bißchen mehr nach'm Fahrer zu. Und der Bus war ja nun voll. Und mit
einem Mal fängt die an. Wollt se an die Tür und will rausspringen.
'Mein Vati ist da!' sagt: 'mein Vati ist da, mein Vati, Vati,Vati!'
Nun konnte er ja nun noch gar nich hören und sehen. Aber sie sah ihn
schon, nich. Da hinten anner Haltestelle. Großer Gott! 'Halten se
das Kind fest!' sagt der Fahrer natürlich zu mir. 'Um Gottes Willen!
Haltense's Kind fest!' Ja, ich festgehalten.
Na,
wir kommen an. Die erste...: 'Mein Vati! Mein Vati!' und heult und
heult. Tränen rollen immer runter. 'Vati, deine Annie freut sich ja
so! Das sind keine Tränen, Vati. Glaub nur, das sind keine Tränen!
Ich freue mich ja so, Vati!' Und ich ja auch. Er heulte auch tu. Und
die Leute alle. Ich konnte nich aussteigen. Ich sage: 'Nun lassen se
mich doch wenigstens aussteigen!' Alle standen immer rum und die
alten Weiber da heulten auch. Kannste dir sowas vorstellen? Das hätte
müssen geknipst werden, du. [Es] stand dann nachher inner Zeitung –
Blankenburger Zeitung [Blankenburger Kreisblatt ?].
Altenbrak
mit Hotel Brauner Hirsch
Meine Annemarie
–
das war ja nich möglich.
Die hat gegessen von dem Tag an! Immer bei ihm [Vati] da. Er hatte
immer denselben Tisch reserviert. Die hat gegessen wie'n
Scheunen-drescher. Die hat alles aufjeholt, so erholt da –
wunderbar. So hat's ihr geschmeckt. Nur der Vati. Der Vati nun fragte
dann immer: 'Was möcht'ste
haben ?' und so, ne, und bedient uns. Na, sie war glücklich. Bis
zum letzten Tag. Bis se dann verunglückte. Da mussten wer dadurch
länger wieder bleiben. Da blieben wer dann nochmal drei Wochen,
glaube ich. Hatten wer nochmal wieder reserviertes Zimmer.
[Wo ist das
passiert?] Da drinnen im Lokal. Unsere Koffer standen schon draußen.
Wir warteten auf'n Bus. Und die [Annemarie] sagt so: 'Ach, Mutti...'
–
der
Saal, 'n großer Saal, und frisch gebohnert, und alles Parkett,
kannste dir denken wie glatt das is, nich; vielleicht zum Tanzen
eingerichtet. Und auf dem Tisch da standen die Vasen. Und sie sagt
dann: 'Die armen Blumen –
die haben ja kein Wasser!' Und ich hatte auch keine Ahnung nun, was
los war. Und die läuft
rein in'n Saal –
nun waren das ziemlich lange [Vasen], wo so zwei Blumen reinpassen.
Und die schlägt
dahin
– direkt mit dem Arm nun drauf. Kaputt die Vase und denn alles
durch [Schlagader und Sehnen].
Und denn schrie se.
Vati
war inner Küche; gerade reingegangen. Und wir warteten draußen. Ich
saß dann da noch anner Veranda. Und die schrie: 'Vati, Vati!' Rannte
nun gleich in die Küche rein, wo er war. 'Vati, Vati, ich will nicht
sterben! Vati, ich will leben! Vati, ich will bei dir bleiben! Vati,
ich will nicht sterben!' schrie se. Und ich denke..., na ist doch
verrückt, is se! Von so'm Hinfallen kann man doch nich sterben,
nich. Und jetzt..., das viele Blut da. Und keine Ahnung was los is.
Und die Frau da, die alte Frau, die Chefin da, die Mutter [des
Chefs], die wusste sofort, was los war, die riss gleich 'n Handtuch
ab, da vom Haken, und hat denn gleich zerrissen und hier drum und
hier auch drum [den Arm verbunden]. Und da sagt se: 'Die muss sofort
zum Arzt!' Na, nun komm da mal in so'n Nest, wo nur Touristen sind –
und denn kein Arzt.
Ich
hatte se so anner Hand und in dem Moment kommt 'n schwerer Wagen
anjefahren, 'n Tourist, also mit'm Herrn drin, großer
Wagen, nich, wie so'n Mercedes. Und dann 'n beleibter Herr, wie mein
Vater ungefähr, der sitzt da am Wagen. Ich sage: 'Um Gottes Willen,
könn' se nich zum Arzt fahren, ist das möglich?' 'Sofort kann ich
das!' 'Hier gibt's aber keinen!' sagte die Frau da vom Hotel. 'Wir
ham hier keinen Arzt. Da müssen se nach Blankenburch fahren!'
Und
der gleich meine Annemarie genommen und innen Wagen rein und ich mich
auch reinjesetzt und sofort da mit hingefahren ins Krankenhaus. Und
da isse ja dann genäht worden. Da is das ja jemacht worden. Und da
wollte se nich rein. Da war grade vorher 'ne Operation jewesen. Das
war so'n Pech, weißte. Da war grade die Operation vorbei und das
Blut das saß da noch alles da, die Bandagen und alles, das war ja
ekelerregend, ekelhaft. Und wenn das so'n Kind sieht, nich! Und da
fing se an zu schreien. Ob se jedacht hat, se würde jeschlachtet,
oder was? Was denkste, was die für Ausdrücke jebraucht hat, die ich
noch nie von ihr jehört hatte. 'Du Aas, du Luder du! Du willst nicht
hierbleiben bei deiner Annie!' Ich durfte doch nun da nich mit rein.
Der Arzt sagte: 'Gehn se raus! Sie muss sofort...' Der hat losjemacht
gleich [die Ban-dagen]. Das war höchste Zeit. Das war geronnen. Das
war nich richtich gemacht worden. Das kam wie'n Strahl
rausgeschossen. Und das war ganz schwarz, das Blut. Die hätte können
'n Brand dazu kriegen; 's war höchste Zeit. Und ich musste schnell
raus. Die Schwestern kamen sofort. Da schrie se dann noch hinter mir
her. 'Na, du hast ja schöne Ausdrücke!' sagte der Arzt. Und..., die
hat Ausdrücke jebraucht.
Und
nachher, wie das nun fertich war, nun war se [in] Narkose. Und der
Herr der wartete da. Schade, ich habe mir den Namen [und] alles nich
sagen lassen. Und der wollte nun gern Nach-richt mal später haben,
und so. Aber ich war ja so aufjeregt und war so weg, dass ich nach
gar nichts frug. Und wir warteten nun da vor dem Wartezimmer da. Und
meine Annemarie kam nach 'ner Stunde –
so lange hatte das gedauert, und die lag noch in Narkose. Und die
Schwester [sagte]: 'Die wacht gleich auf, Frau Scholz.' Na, und dann
wachte se auf. Und dann sagt se: 'Mutti, biste da? Mutti, biste da?'
'Ja, ich bin da.' sar ich. 'Mutti! Schimpf nich. Ich konnte ja nichts
dazu! Ich konnte wirklich nichts dazu, Mutti! Das haben doch die
Blumen gemacht!' Ne...,
die Blumen waren dran Schuld. Ich sare: 'Nein, haste ja auch nich.'
'Mutti! Schimpf nich mit deiner Annie! Biste wieder gut, Mutti?' so
ging das gleich. Und da sagte der Arzt: 'Sie haben aber ein reizendes
Kind! Is ja einmalich!' Na, hat er se dann hingenommen, getragen ins
Auto rein und [der Herr] hat uns dann hingefahren, wieder, nach
Altenbrak.
Und
wir beide, der und ich, wie ich draußen nun saß: 'Oh Gott', sagt
er, 'Sie sehen so elend aus! Es geht Ihnen so schlecht. Dann hamse
doch nich solche Angst! Die wird schon wieder, die Kleine! Das wird
jenäht...' und so. Hab' ich jebetet. Und er guckte mich dann so an.
Und er hat auch die Hände gefalltet. 'Lieber Gott! Lass bloß meine
Annemarie wieder werden!' hab ich immer gesagt. 'Lieber Gott, lass se
doch bloß wieder gesund werden! Lieber Gott!' 'Ja', sagt er, 'Gott,
der hat das schon erhört.'
[Und
nachher mussten die Fäden wieder gezogen werden?] Ja, hatten wer
wieder so'n [Theater]. Isse wieder ausgerissen, tu. Mussten wer
wieder hin. Da [sind die Fäden] noch nicht [gezogen worden]. Dreimal
im Ganzen [mussten wir hin]. [Beim] zweitenmal wurde erst gekuckt,
nachgesehen, wie weit das gekommen war. Ob's gut verheilt war, und
so. Da kriecht ich se nich rein. Na ja, hinterhergelaufen; ham wer se
jeschnappt und denn musste se rein. Hat se auch geschimpft wie'n
Rohrspatz. Der Arzt sagte mir auch, wie se inner Narkose gelegen
hätte, hätte se auch so geschimpft. Ihn hätte se ausgeschimpft;
...der Doktor...; 'A', wie 'Arschloch' [?] 'Du hast ja schöne
Ausdrücke jebraucht für mich!' sacht er. 'Du hast mich ja
ausjeschimpft.' Nun muss man sich auch vorstellen: einmal nun dieser
weiße Kittel; er war so'n Lulatsch wie du [Rolf-Peter], so'n großer,
ne, und stand nun da oben auf'm Balkon wie so'n heiljer Geist da. Und
man hatte ja selbst 'n bißchen Schauer, nich. Viel mehr die
[Annemarie].
Und
sie war dann unten, wie se dann wieder sagt: 'Nein, ich will nicht
rein! Nein, ich will nicht rein! Mutti, ich will nicht rein!' Ich
sage: 'Annemie, der will doch nur nachkucken was los ist. Der macht
doch gar nichts mit dir!' Bums! ...war se schon wieder verschwunden,
schon wieder wechjelaufen. Bis dann die Schwestern kamen. Die mussten
mitkommen. Er stand da oben. Ich dachte, wenn das Arschloch doch bloß
wechginge, nich! Die sind beschnappt, da oben, dacht ich auch noch.
Wenn er doch bloß verschwinden würde! Na ja, und wie er dann weg
war, sagt se: 'Mutti, gell, jetzt brauch ich nich mehr rein. Mutti,
der is ja nich mehr da, ich brauch nich mehr rein, nich?!' 'Wir
müssen doch rein! Es hilft doch alles nichts.' Ich sare: 'Ich kauf
dir auch was Schönes.' Sie wollte ja gar nichts haben. Die
Schwestern wachteten –
so geht das ja nich weiter –
na ja, dann bin ich von einer Seite..., und die Schwestern haben sich
verteilt, die sind vonner andern Seite, so ham wer se jeschnappt. Und
wie se dann geschimpft hat, ne!
Und
dann nachher, wie die Fäden gezogen wurden, da war's nochmal so. Da
sagte der Arzt denn: 'Ich habe de Nase voll..., mit dir..., so'n
Patient –
dich möcht
ich nich nochmal haben!' 'Ich komme auch nich wieder her!' hat se
jesacht. 'Was ham wer dir denn jetan?' 'Ja –
ich habe solche Angst gehabt. Ich habe solche Angst gehabt.' sagte se
denn.
Das
stand auch in der Zeitung drin. Von einem –
wie stand da?
–
Oberkellner die Tochter, das einzige Töchterchen
verunglückte,
und so weiter alles so. Und schon wie wer anjekommen waren mit dem
Autobus, das Theater da, das müssen aber Leute haben [reinsetzen
lassen]. Die haben mich ja auch besucht, wie se da im Krankenhaus
lag. Mensch, die hat so viel... Blumen über Blumen und Geschenke
gekriegt –
da von den ganzen Leuten da. Ich sare: 'Na, das möcht'ste
wohl immer so haben, dann kriegste immer viel, nich?' 'Nein!' Der Arm
war nun –
wie sagt man? – in Bandagen und so, dass er so lag. Da ist die
schon wieder mit den Kindern in' Wald jegangen, hat Pilze jesucht und
Erdbeeren und alles. Die war nich zu halten. Und ich sare: 'Was
hat'er Doktor jesacht? Wenn du hinfällst...,
du musst sehr vorsichtich sein. Und die kam an, die Kinder kamen
vorwech gelaufen –
war se wieder jestürzt.
Darum war ich ja dann des zweite Mal schon wieder da. Aber war nichts
passiert.
Na
ja, nun waren wer nochmal drei Wochen da. Aber der hat sich nichts
draus gemacht, der Lehrer [Annemaries Schullehrer in Weimar]. Der war
sehr nett. Dass se nun [gestürzt
war], das war ja nun Pech! Aber sonst war's schön. Sie war ja an und
für sich..., sie war ja einmalich –
wirklich wahr.
Onkel Männe
Onkel Männe aus Amerika (Hermann
Sperling, Cousin von Mutti) besucht sie
versucht, zum
Verlassen von Hitler Deutschland zu überreden: "Es gibt 'nen
Krieg!"
Bei Onkel Otto in Deensen
Ferien von
Schule genommen; bei [Groß-]Onkel Otto Sperling und Tante Marie
(noch zwei Töchter) in Deensen bei Kreiensen
Onkel Otto ist
Bahnhofsvorsteher vom Bahnhof Deensen-Arholzen an der Strecke
Altenbeken-Kreiensen, Hühner gefüttert;
dann in Deensen
in die Schule gegangen; einmal ein Gedicht im Radio aufgesagt:
Mitten
auf der Wiese
sitzt
die kleine Liese
im
grünen, grünen Gras.
Sie
träumt sich sacht in Schlummer,
da
kommt ein großer Brummer
und
fliegt ihr auf die Nas´.
"Weg,
weg! Du alter Brummer!
Störst
mich in meinem Schlummer!
Willst
weg! Was soll denn das?"
Der
Brummer brummt gemütlich:
"Ach
Lieschen sei doch friedlich.
Ich
mache doch nur Spaß.
Onkel Otto
verhaut sie einmal; als die Tante sie auffordert, reinzukommen,
weigert sie sich und sagt “Du kannst mich mal fettlecken!”
Otto Sperling
ist der Bruder von [Groß-]Tante Hermine und von Anna (Großmutter);
Einschub: Geschichte von
Tante Hermine und Onkel Männe
“Tante
Hermine” (Hermine Sperling, Muttis Tante); ihre Schwester Anna
Sperling (Muttis Mutter), ist ihre Lieblingsschwester; Hermine war
“unkonventionell” (etwas “daneben-geschlittert” aber
“herzensgut”); sie besaß einen Zigarrenladen zur Zeit als
Annemaries Großeltern die Garküche an der Abzucht betrieben; sie
hatte auch einen unehelichen Sohn, Hermann Sperling (“Onkel
Männe”), von einem Fabrikbesitzer(sohn ?), der sie nicht
geheiratet hatte (sie war untreu?); ihr Bruder (besagter Otto
Sperling aus Deensen) legte seiner Schwester [symbolisch?] einen
Strick hin, als diese ihren unehelichen Sohn Männe bekam; daraus
folgte die spätere Feindschaft zwischen Onkel Männe und (dessen
Onkel) Onkel Otto
Tante Hermine
war wohlhabend zu der Zeit (später verarmte sie) und streckte
Annemaries Großeltern Goldstücke vor, um den Bayrischen Hof in
Goslar, Bäringerstr. 2, zu kaufen; der vorherige Besitzer hatte
“nicht viel aus dem Haus gemacht” (Holz wurde auf dem Klavier
gesägt?); die Großeltern nahmen dann den Sohn von Tante Hermine
auf, der also mit Mutti wie ein (etwas älterer)
Bruder im Bayrischen Hof in der Familie Hermann und
Anna Wolter aufwuchs, auch den Namen Hermann (“Männe”) erhielt
und dann auch – wie sein Onkel – Schlosser lernen musste
Männe ging
dann aber (auf Muttis Anraten? – “hier in Deutschland hast Du
doch keine Zukunft!”) “zur See”, wurde Matrose, und ging in
Amerika nicht wieder an Bord (blieb dort als illegaler Einwanderer),
arbeitete als Butler bei einer steinreichen Familie; Irmgard, die er
in Bremerhafen vor seiner Abreise kennengelernt hatte und die dann
dort Ronnie geboren hatte, kam später nach und wurde seine Frau;
beide arbeiteten als Butler bei reicher Familie (Alko-holiker, die
nachts ins Bett getragen werden mussten – wie in dem Film “Dinner
for One”); Ronnie wuchs in einer anderen Familie auf; Tante Hermine
wusste nichts von alledem
Irmgard
und “Onkel Männe” 1955 zu Besuch in Deutschland
spätere
Zwistigkeiten, als Onkel Männe aus Amerika zu Besuch kommt, mit
Mietauto nach Deensen fährt und dort auf Onkel Otto stößt
Tante Hermine
ist auch Taufpatin von Annemarie (nennt sie “unser
Sonnenscheinchen”); später gute Freundin von Mutti, Mutti hat sie
in Weimar aufgenommen; später zusammen in Zimmer 11 [?] im
Bayrischen Hof gelebt, bis sie Zimmer räumen müssen für Frau
Wolter; Tante Hermine später verarmt und an Kehlkopfkrebs gestorben;
Armenbegräbnis
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