Wednesday, June 15, 2022

(Vorwort, Karte, Inhalt)

 



Annemarie Wille (geb. Scholz)


Biographische Anekdoten in Stichworten


von ihrer Geburt (Goslar 1927) bis zur Geburt ihres ersten Sohnes (Braunschweig 1954)



gesammelt von Rolf-Peter Wille






Vorwort


Meine Mutter Annemarie Wille, Braunschweigs bekannte und geliebte Klavierlehrerin, die Mutter vom Pianisten Hans-Christian Wille und mir, liebt es, Geschichten zu erzählen. Leider begann ich erst kürzlich damit, mir diese sehr kunterbunten, bruchstückhaften Anekdoten aus ihrer Jugend zu notieren. Endlich versuche ich nun hier, meine Notizen in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen, ohne sie weiter literarisch auszuschmücken.

Die längeren Einschübe, die ich hier hineingeschmuggelt, sind zum Teil noch Erzählungen meiner Omi, also der Mutter von Annemarie (sie nennt sie “Mutti”). Meine Omi erzählte uns diese Geschichten 1984 in Goslar, als meine Frau Lyna und ich sie im Bayrischen Hof be-suchten. Ich gebe sie hier in ihrem recht eigentümlichen, fast schon etwas derben, Braun-schweiger Jargon wieder.

Angehängt habe ich mein lustiges Gedicht “Annemarie Wille (meiner Mutter zum 85. Geburtstag, am 8. Dezember 2012)” sowie die kurze biographische Skizze “Annemarie Wille”, die mir mein Vater als Unterlage für jenes Gedicht schickte. 


                                                                           RPW 2021




Karte der Städte, in denen Annemarie längere Zeit lebte






Inhalt


Weimar (1930-1934):

Wolfshagen, Goslar, Wittenberge, Wünsdorf (1934-1939):



Goslar, Erfurt, Nordhausen (1927-1930)

 

Goslar

Vorgeschichte und frühe Kindheit



Annemaries Mutti, Luise Wolter (rechts) mit ihren Eltern



Ihre Großmutter stirbt


Annemaries Großmutter (Muttis Mutter) Anna Wolter (geb. Sperling) stirbt 1926 [?].

“Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah!” lässt Annemaries Großvater Hermann Wolter auf den Grabstein seiner Frau setzen. Doch ein Jahr später geht er schon wieder "auf Brautschau" nach Weimar. Dort trifft er Marie(chen) Möller (genannt Putti, viel jünger, später “Frau Wolter” genannt) beim Tanz [?]


Ihre Eltern treffen sich

Vati (Willy Scholz, 1902-1966) arbeitet zu der Zeit als Kellner in Goslar im Goldenen Stern, Bäringer-straße 6. Nach seiner Arbeit besucht er hin und wieder den Bayrischen Hof, Bäringerstraße 2, Dort lernt er Mutti kennen (Luise Wolter, genannt Lisbeth, 1903-1992)

Mutti: "Wieso sprichst du so komisch?" Vati: "Ich komme aus Weimar, der klassischsten Stadt Deutschlands."

Vati kennt zufällig auch Marie Möller vom Tanzlokal (beide sind aus Weimar; geboren ist Vati eigentlich in Schmalkalden).


Vati (Willy Scholz), rechts, mit Bruder und Vater


Mutti ist in Umständen

Sie ist sehr naiv; sie denkt, man kann ein Kind auf dem Klo durch "Drücken" verlieren.


Geburt und Taufe

Annemarie ist am 8. Dezember 1927, im Hotel Bayrischer Hof, Zimmer 11, geboren

Mutti und Vati sind noch nicht verheiratet (Mutti hatte Nierenbecken Entzündung; Annemaries Großtante, Hermine Sperling, versorgt Annemarie). Ihre Eltern heiraten Pfingsten 1928 und ihre Taufe ist am gleichen Tag in der Frankenberger Kirche.


Mutti und Vati haben Stellung in Erfurt

Annemarie bleibt eineinhalb Jahre im Bayrischen Hof, von ihrer Stiefgroßmutter Frau Wolter versorgt.

Frau Wolter, Mutti, Vati und Annemarie (späteres Photo von Rolf-Peters Taufe, 1954)


Sie schläft im Zimmer der Großeltern.

Ihre Großeltern schlafen zusammen. Sie hat eine Couch im gleichen Zimmer und kann alles hören.


Sonnenröschen”

Mutti erzählt: “Auch wie se ganz klein war, hier unten [im Bayrischen Hof] und ich will zu meinem Vater hier hin, unten. Und ich weiß gar nich, er [Annemaries Vati] war nich mit dabei. Der Vati war nicht hier. Und ich hatte se auf'm Arm – so klein wie sie war. Und hier war'n Kellner, der kellnerierte, der war ja auch nett. Koch hieß er, netter Kerl, der war bei meinem Vater da in Stellung. Und kam raus [aus dem Restaurant] auf'n Flur. Ich hatte meine Annie auf'm Arm. Und meine Annie macht denn: 'Huhu, hallo, huhu', machte se dann; sprechen konnte se noch nich viel. Und der sagte denn: 'Jaha. Wir kenn'n uns schon, nich! Du kennst doch den Onkel?' 'Hmm', machte se denn. 'Hmm.' Und er kam denn näher: 'Küsschen – Schnurrbart.' Er hatte'n Schnurrbart. Ha! Da wollte se'n Küsschen von dem haben. Denk mal an!

Da sagt er: 'Ihre Kleine, Ihre Annie, die kenn ich zu genau.' Durch meinen Vater: Jedesmal wenn er se auf'm Arm hatte, dann musste er kommen. So gern hatte se den. Rief se immer: 'Hallo', machte se immer. Als Baby – stell dir mal vor! 'Hallo...', dann kam er denn hier. Freute sich so. Weil er'n Schnurrbart hatte. 'Küsschen...' Ich sare: 'Das is ja allerhand!' Ich sare: 'So genau kenn'n se meine Annemie schon?' 'Ja', sacht er, 'das'n Bärenheft.' sacht er. 'Ich mach se furchtbar gern. Das's so'n richtiger Goldengel!' sagte der immer. 'Sonnenröschen' sagten se immer zu ihr. 'Sonnenröschen', weil se immer lachte und fröhlich war, nich... und viel Temperament hatte, mochten se sie furchtbar gern.”


Als Mutti einmal zu Besuch kommt, sitzt “Annie” allein auf dem Fußboden von Zimmer 1. Sie erkennt Mutti nicht und nennt sie “Tanti”.


Bayrischer Hof (Photo von 1960 mit Rolf-Peter, Annemarie, Vati, Mutti)





Erfurt



Annemarie hat keine persönlichen Erinnerungen an Erfurt. Sie war noch zu klein. [1930?]


Durchgangslokal

Ihre Eltern haben ein kleines Lokal [gepachtet]. Die Küche ist im Keller, oben ist es ein Durchgangs-lokal.

“Der Buhler” (Onkel “Willy Buhler”) sitzt stets im Café (von Weimar hingefahren anstatt zu arbeiten; er ist immer recht “undurchschaubar”)

[“Der Buhler” ist der Mann von Tanta Klara, Vatis Schwester.] Mutti: “Klara war bildschön, fiel auf, schlanke Taille; groß, schönes Gesicht; erster Preis im Tango Tanzen”

Familienvergnügen Schlitten gefahren



Das veflixte Zeitungsinserat

Für das bevorstehende Schlachtefest soll ein Inserat in der Zeitung stehen: "FF Gehacktes" [FF = fein fein = vorzüglich]. Arbeitet Till Eulenspiegel bei der Zeitung in Erfurt? Leider erscheint das Inserat mit einem Druckfehler: “FF Gekacktes” lustig, aber doch so peinlich, dass Annemaries Eltern deswegen offensichtlich gekündigt haben.

Von nun an beginnt Annemaries “Nomadenleben” (jedes Jahr, oder alle zwei Jahre, in einer anderen Stadt); es beginnt in Nordhausen am Südharz, wo Vati Stellung annimmt.





Nordhausen


Walther Hans Reinboth: Lutherbrunnen in Nordhausen um 1930



Vati arbeitet als Kellner in einem Lokal. Sie wohnen in einem “weißen Haus am Wasser” [die Zorge?].


Das blaue Buch einschreiben”

Annemarie ist sehr selbständig und resolut und kann schon einkaufen.

Schräg gegenüber gibt es ein Geschäft. “[Einmal stehe ich] am Thresen und der Verkäufer fragt: 'Frau Scholz, wie ist es denn mit den Schulden? Woll'n se die man nich mal bezahlen?' Ich sage: 'Ich, Schulden? Wie komm se'n darauf?' 'Na, wasse einjekauft ham, was Annemarie jeholt hat!' Das gibts ja wohl nich; blaues Buch für Schulden, im blauen Buch einschreiben (das hatte se von andern mitgekriegt); an der Wand hingen Nuckel mit bunten Ringen.” Mutti will ihr das Nuckeln abgewöhnen. Sie hört oft ein Schmatzgeräusch, wenn Annemarie eingeschlafen ist; aber wenn sie ins Zimmer kommt, ist der Nuckel weg.

Die Schulden? “Zigaretten, Bohnenkaffee und dann die Schnuller. Das wissen Sie gar nicht?” Mutti denkt, alles ist von Vati (aber das ist gar nicht wahr). Wenn Mutti Vati ausgeschimpft hat: “Du mit deinen Zigaretten und Bohnenkaffee! Das is ja schrecklich!”, tröstet Annemarie Vati: “Ärgere dich nicht! Vatis müssen rauchen! Und müssen Bohnenkaffee trinken!” Das hatte er ihr beigebracht.

Na ja, Mutti hat's bezahlt [die Schulden]. Abends spricht sie zu Annemarie: “Du, sag mal, wie isses eigentlich mit'em Nucki? Hast keinen Nucki mehr?” “Nein! Deine Annie hat keinen Nucki mehr!” “Du nuckelst nich mehr. Aber du hast drüben Nuckis gekauft! Nich?” “Ja...” “Und wo sind die Nuckis?” “Die sind nich mehr da.” “Und Bohnenkaffee haste auch gekauft?” “Ja. Für Vati.” “Und Zigaretten?” “Ja. Vatis müssen rauchen.” “Und wo hast'en das Geld her?” “Ja, Mutti. Du hast ja auch immer kein Geld. Du bist ja eine arme Frau.” “Ja. Das bin ich!” (Annie sagt immer zu Vati: “Geh doch nich arbeiten!” “Aber wir sind doch arme Leute! Mutti is eine arme Frau. Ich muss Monni, Monni [money] verdienen!”) “Und Geld?” “Die Annie kann immer ohne Geld kaufen. 'Das blaue Buch einschreiben' hab ich gesagt.” Sie war ganz stolz darauf. Vati will sich kranklachen.


Hab ich gewaschen!”

Mutti erzählt: “[Ich sage zu Annie:] 'Deine Schlüpfer sind immer dreckig. Ständig muss ich die waschen. Das macht mich verrückt!” Jetzt kommt die ohne Schlüpfer an. Weg. 'Hab ich gewaschen!' 'Wo denn?' 'Im Wasser.' [Sie wohnen am Wasser. Es ist nicht tief. Man braucht nur runterzugehen und ist schon am Wasser.] Hat se wegspülen lassen. Einmal kommt se ohne Schuhe.” Mutti hat geschimpft und ist mit Kindern [die dort gespielt haben] bis zum Wehr gelaufen. Aber die Schuhe hat sie nicht wiedergekriegt.


Tschingderassabumm

Nach Muttis Erzählung: “In Nordhausen geht Vati arbeiten in einem Lokal. [Es gibt auch] Nachtbetrieb. Am Tage geht Annemarie gerne mit, [um das] Silber zu putzen: 'Deine Annie arbeitet mit.' Sonst spielt sie viel mit Kindern [am Fluss ?]. Er [Vati] muss um 8 [Uhr] im Laden [Restaurant] sein. [Nun war es den Tag] schon 6 – Annie ist nicht da; 7 – nicht da. Er [Vati] rief draußen. Sie soll ins Bettchen kommen. Sie ist nicht da. Großer Gott! Andere Kinder gefragt – keiner weiß was. Vati sagt [zu mir]: 'Wenn das Kind nicht da ist, ich hänge dich auf! Ich hänge dich auf. Schaff mir das Kind heim! Ruf mich sofort an, wenn die Annie da ist, damit ich beruhigt bin.'

Er [Vati] ist 10 vor 8 los [zum Lokal]. Ich laufe auf [der] Straße [ent]lang. Rufe immer: 'Annie, Annie!' Mit einemmal: 'Jaha, jaha!' Ich laufe der Stimme nach. Eine Dame aus gutem Stand hat sie an der Hand. 'Sind Sie die Mutti?' 'Ja!' 'Also, die ist ja einmalig, die Kleine! Dann bin ich hier doch richtig! Sie hat mich geführt und hat gesagt 'n weißes Haus am Wasser!: Wie heißt du? Annie.' – Den andern Namen wusste se nicht. – 'Und was ist dein Vati?' – ...hat se nich Kellner gesagt. Hat Vati ihr beigebracht: 'Mein Vati ist Speisebeförderungsassessor.' – Sie konnte die schwersten Wörter. Bereits als Baby [?!]. Petroleum konnte se sagen. Mit Dreiviertel [Jahren ist sie] gelaufen und konnte auch sprechen,

[Die Dame fragt sie:] 'Nun sagen se mal; was denken se denn, wo Ihre Kleine war? Was denken se denn, wo wir jetzt herkommen?' 'Weit wej!' sagt Annie. 'Ganz weit, Mutti, ganz weit.' [Die] Dame sagt: 'Ne Musikkapelle ist marschiert. Und da isse immer mitmarschiert – bis ins nächste Dorf.' Und die Dame wohnte da, im nächsten Dorf. Bis dahin ist sie mitmarschiert. Und da hat se sich keinen Rat mehr gewusst. Und die Dame hat da gestanden. Und da hat se die an den Rock gefasst und gesagt, sie wollte nach Hause. 'Wo biste her?' 'Nordhausen.' Das wusste se. Die Straße wusste se auch nicht. Aber weißes Haus am Wasser – das wusste se.

[Mutti schimpft.] Annemarie ist im Bett. 'Mutti schimpf doch nicht. Das war doch so schön!' Macht immer tschingderassa im Bett – aufgeregt bis dorthinaus. [Mutti sagt:] 'Aber Vati ist so unglücklich!' 'Wir gehen hin!' 'Soll'n wer?' 'Bitte, bitte! Lass mich zum Vati!' Habe ich se an die Hand genommen. Sind wer hingegangen – Vati [ist] glücklich.”


Mit dem Onkel darfste tanzen!”

Nach Muttis Erzählung: Mutti ist für zwei Tage zu einer Hochzeit in Ildehausen eingeladen und fährt zusammen mit Annemarie von Nordhausen hin. Es gibt 45 Gäste in Ildehausen und ein Saal ist extra gebaut worden für die Feier. “Und Annie sollte schlafen; und das Luder hat geschrieen. Tante Hermine sagt: 'Hol bloß das Kind runter, man kann's nicht ertragen! Die schreit ja in einer Tour!'

Angezogen, mit runterjenommen in'n Saal wo jetanzt wurde. Und – nun pass auf – was jetzt war. Ich tanze. Ich wurde aufgefordert. Da sacht se: 'Nein, Mutti! Mit dem darfste nich tanzen!' Und jetzt tanzte ich nun. Da kommt se dahin beim Tanzen – hat mich nich tanzen lassen. Nein! War nich möglich. Mein Vater saß dahinten. Der sagte: 'Nein, das ist ja unmöglich! Das kann man ja gar nich ertragen.' 'Mutti! Mutti! Meine Mutti! Ich sach's 'm Vati!' Immer an'en Rock gefasst; 's hat ja keinen Zweck! Müssen wer aufhören zu tanzen. Da war se glücklich.

Da saß se nun mit an einem Tisch. Freute sich ja so, dass se da war. Das war ja schön für se. Jetzt kommt'n Onkel von mir. So'n alter Tatterich. War schon ziemlich alt, so anne 70. Der will mich auffordern und sagt: 'Komm Lisbeth, wir tanzen mal!' Und weißte was se da sagt? 'Ja mit dem Onkel darfste tanzen!' Haste Töne? So'n Luder! [Und der andere?] Das war'n junger Kerl! Hübscher Kerl war das, großer, schlanker, hübscher junger Mensch!”


Mutti ist doch eine arme Frau!”

[Fortsetzung von oben:] “Und als wer dann nach Hause wieder fuhren. mit'm Zug nach Nordhausen..., und da mussten wer noch'n Stück mit'er Elektrischen [Straßenbahn] fahren. Und da hat se rote Bäckchen und ist so glücklich. 'Vati, mein Vati seh ich wieder!' Ich sage: 'Der Vati is nicht zuhause. Der muss arbeiten!' Sie wuste ja wo's Lokal war. War ja immer mitgegangen mit ihm. Kannte doch. Und da sagt se: 'Mutti! Nein, ich will nicht nach Hause! Ich will zum Vati!' Und nun macht se so'n Theater inne Elektrische und ich sare: 'Na ja, is gut, wir gehen zum Vati.'

Na, bin ich mit ihr hinstolziert. Musste mal denken – der hohe Schnee! Ich hab se auf'n Arm genommen. Großer Gott nein! Die Kälte und alles! Und wie wer da reinkommen ins Lokal – und war alles voll; wurde ja auch getanzt, ne. Und mein Willy der bediente da nun; und da rief se: 'Vati, Vati! Deine Annie is wieder da! Oh Vati! So'ne Menge Schnee draußen!' Und er wurde nun ganz irritiert durch den Kram und musste doch nun servieren. Und da sagten die andern: 'Lassen se doch die Herrschaften! Gehn se doch erstmal hin nach der Kleinen! Die ist ja süß.' Und so ging das nun.

Na, da kam er an. 'Vati! Deine Annie ist wieder da! Vati, freuste dich denn auch?' 'Ja. Ich freue mich auch! Aber jetzt musste ins Bett gehen.' 'Jetzt kann deine Annie schlafen,' sagt se, 'aber wenn se'n Vati nicht sieht, dann kann se nich schlafen. Vati, nun komm doch, du brauchst doch hier nicht arbeiten!' Und die Leute nun alle. Und sie: 'Ja, Monni, Vati! Gell? Monni, Monni! Die Mutti is doch eine arme Frau!' Die haben Tränen gelacht, die Leute. 'Das is aber eine!' ...'n Bärenheft war das.”


(Vati)



nächstes Kapitel


Tuesday, June 14, 2022

Weimar (1930-1934)

 

Weimar

Kindheit bis zur Einschulung


Die Töpfergasse

Marie Möller (Frau Wolter) holt ihre Eltern aus der Weimarer Töpfergasse in den Bayrischen Hof (Goslar) und stellt Vati und Mutti diese Wohngelegenheit in der Töpfergasse zur Verfügung.

romantische Gasse am Stadtrand, Rotlichtmilieu, später unter Hitler abgerissen; es ist das Haus vom “alten Möller” dem Vater von Marie Wolter; er ist "Beamter", Mutti sagt er “fährt Scheiße”

es gibt noch keine WCs – nur “Plumpsklos” (Annemarie kann das Plumpsen hören), man wischt sich mit Zeitungen; die Fäkalien werden von der Stadt mit Wagen wegtransportiert (von “Beamten”)

Aufpasser Würzbacher, isst mit Hunden und Katzen am gleichen Tisch;


Töpfergasse


daneben ist ein Bordell (ein “schönes, großes Haus”); [ihre Cousine] Lotti und sie beobachten Prostitutierte und imitieren sie, ahmen sie nach, hängen sich Gardinen um und warten auf "Freier"; als Tante Klara [Lottis Mutter] davon erfährt sagt sie zu Lotti: "Du gehst da nicht mehr hin!"


Bruno Voigt: Töpfergasse Weimar 1932


sie und [ihre Cousine] Lotti sind “wie zwei Schwestern”; gestrickt und gespielt

oft mit Fräulein Lili (Edelprostituierte ?) gesprochen


Wollter meine blauen Flecke sehen?

Sie zeigt den Leuten ihre blaue Flecken: “Wollter mal sehen, wo meine Mutti mich gehauen hat?”. Die Leute sind wütend auf Mutti. Mutti hat sie verhauen, danach tut es ihr furchtbar leid.


Sie rollert zwischen die Pferde

Vor dem Haus gerät sie mit ihrem Roller zwischen die Pferde. Die Pferde haben Heusäcke zur Fütterung um, heben ihren Kopf und prusten Sand aus den Nüstern: Sie hat viel Angst – Mutti denkt schon, sie sei tot.

In Muttis Worten: “Großer Gott! Was ich mit der alles erlebt habe! Viel Freude, aber auch viele [Unglücke], dass sie gefallen ist. Sie war ja so wild – wie 'n Junge. Puppenwagen? Den gab se 'n Kindern. Und die rollerte lieber. [Einmal ist sie] in die Pferde; reingerollert! Und dann lag se dazwischen; wenn das Pferd getreten hätte, war se weg! Und dann ein Schreien! Und ich gucke aus'm Fenster – und sie liegt dazwischen! Ach tu großer Gott! Und dann gleich runter. Und nun konnten die ja nich' beißen, weil se so'n Fresskorb zum Haferfressen umhatten. Und das war ja nun 'n Glück!”


Sie versilbert Muttis Pompadour

Beim Lumpenhändler am Stadtrand “versilbert” Annemarie Muttis Tasche, eine wertvolle Perlen Pompadour [beutelartige Damenhandtasche für den Theaterbesuch]

20 Pfennig bekommen, zum Muttertag eingekauft, um Tisch zu schmücken (Apfelsinen, etc.), Mutti: “Annie, wo haste das Geld her?”, gleich zum Lumpenhändler geflitzt – “hatter nich mehr...”


Schlittschuhe gekauft


Sie isst Pferdewürstchen

Mutti erzählt: “Und in Weimar, das war vor der Einschulung: Sie rief immer von unten: 'Mutti, wirf mir mal 'n Sechser [5-Pfennig-Münze] runter!' Ich sare: 'Nee, warum? Wozu?' Ich wusste ja, sie aß keine Bonbons und so. 'Ja. Du wirst schon sehen! Wirf mal 'n Sechser runter! Mutti, tu mir den Gefallen!' Na gut. Eingewickelt und 'n Sechser runtergeworfen.

Na, 's dauerte nich lange, da rief se: 'Mutti! Guck mal raus! Was ich gekauft habe!' Dann macht 'se immer 'hi hiii, hi hiii' – Pferde, nich, Pferdewurst. Die andern Kinder ja auch. Die kauften da immer – Bach hieß der Fleischer – der wohnte nich weit von uns [nicht weit auch vom Lumpenhändler], und die aßen da...; für 5 Pfennig kriegste ne Bockwurst – Pferdefleisch. In Goslar ja auch. Fohlenfleisch – das kauften se wie verrückt hier. Fohlen ist das Kind vom Pferd. Ja, schrecklich! Zuckerkranke dürfen nur Pferdefleisch. Deswegen wird das so viel verkauft.

Und nun stand se da. Und ich sare: 'Freundchen!' Ich ekelte mich da nun. Ich sare: 'Komm du man rauf! Du kriegst nie wieder 'n Küsschen von Mutti!' 'Das schmeckt aber gut! Mm! Das schmeckt ja so herrlich!' Nun..., weil die Kinder das auch alle aßen.Sonst hat se sich ja nichts aus Essen gemacht. Wenn ich 'n Kind mit raufnahm – hatt ich ja öfter – damit sie Appetit kriegte; und das Kind, das aß denn und sie guckte und sagte: 'Gell, das schmeckt aber gut! Du musst tüchtig essen, damit du groß und stark wirst!' Ich sare: 'Und du?' 'Ach Mutti, ich hab kein' Hunger! Ich kann wirklich nich essen, Mutti!' So war das immer. Was woll'ste dagegen machen?

Kakao, ging se auch nicht ran. Macht' ich für se Malzkaffee: sie trank 'Kaffee'! Und die [andern] Kinder tranken dann Schokolade – Kakao. Ich habe se können nich rankriegen für so was. Man musste se gehen lassen, dass se wenn se Hunger hatte denn was aß, 'n Butterbrot, am liebsten nur 'n Butterbrot und ne Tomate – so was..., oder 'ne Gurke.”


Sie füttert Sherry und Purzel

Mutti erzählt: “Und dann Tiere! Da war so'n Judenehepaar. Und die Frau wollte meine Annie haben. Die waren – wie nannte man das? – Lumpen, Knochen, Eisen. Aber waren reich, hatten 'n wunderbares Haus. Wo wir wohnten, da musste man dann 'ne Ecke gehen. Der Willy kannte die ja auch – sogar sehr gut. Sie war auch 'ne hübsche Frau, er 'n hübscher Kerl. Nun hatten die keine Kinder. Sie hatte 'ne Tochter gehabt, die war verunglückt. Und meine Annie, sagte se, sähe ihrer Tochter so ähnlich. Hat se direkt mich jefragt – er auch – ob se nich adoptieren könnten.

Und die hatten zwei wunderhübsche Hunde, Sherry und Purzel, zwei Kurzhaarterrier. Und bei mir fehlte 's nun zuhause: mal fehlte Gehacktes, mal Brötchen. Und wir wohnten direkt so, dass der Tisch ans Fenster ging; wenn de das Fenster aufmachtest war da – wie der Dachgarten. Und da kam immer 'ne Katze hoch. Und sie [Annie] erzählt mir dann, die Katze hätte das geholt [das Gehackte und die Brötchen]. Und ich hab jeglaubt. 'Mein Gott', sar' ich, ausgerechnet, wenn ich nich da bin! Das Fenster soll ja auch zu sein, nich aufgemacht werden!' Na ja. 'Die arme Katze! Die war aber am Verhungern!', sachte se dann.

Na ja. Jetzt fing's an, fehlten mir de Brötchen. Die wurden anne Tür drangehängt, da musst' ich drei Stufen ungefähr runter, vom Zimmer aus, und da hing der unten immer 'de Brötchen dran. Ich denke, Mensch, hier, das gibt's doch nich! Die Brötchen muss doch denn jemand klauen. Die kann ja nun de Katze nich rausholen – auf'm Maul. Von wejen de Katze jeklaut! Hier..., das stimmt doch gar nich! Ich sare: 'Das kann ja nun nich stimmen, nich, mit deiner Katze! Du spinnst wohl hier! Ne Katze..., und Brötchen holen. Ja, son 'ne Katze gibt's nich – und die mögen auch keine Brötchen!' Das fand se v'lleicht auch 'n bisschen komisch – sie war ja so helle!

Ich geh auf die Straße raus. Ich denke, sollte v'lleicht der [Bursche] die verloren haben? Jetzt guckt da Frau Wölwer [?] aus'm Fenster. Und da sacht se: 'Frau Scholz, suchen se was?' Ich sare: 'Ja..., ich suche meine Brötchen.' 'Ach tu großer Gott! Brötchen jetz' auch schon!' 'Wieso auch schon?' 'Na..., Frau Scholz, geh'n se ma' jetzt hier runter, die Straße. Ihre Annie is noch nich da, nich?' 'Die is nich da.' 'Gehn se ma' hier runter.' Und da is der Torwech [Torweg]. Der Torwech gehört da hinten zu dem Haus von diesem Judenehepaar. Die hatten 'n riesengroßen Hof, da war dann so'n Torwech nach der andern Seite hin. 'Da', sacht se, 'da gehn se ma' hin, da wer'n se Ihre Annie finden!' Ich denke, das ja komisch. Hat aber weiter nichts jesacht.

Na. Ich geh da hin, gucke da unten rein in'n Torwech. Richtich! Inne Ecke da sitzt meine Annie. Hat se hier'n Sherry und hier'n Purzel: 'Gell? Das schmeckt euch aber gut! Ja. Ihr habt ja auch so'n Hunger! Nich? Ja, ihr Armen! Wenn eure Annie nich wäre!' Und ich sare: 'Na, und wenn deine Mutti nich hier wäre! Freundchen! Du hast denen jetzt die Brötchen gefüttert.' 'Ah, Mutti! Bitte, bitte hau mich nicht! Die ham ja solchen Hunger! Die wären ja verhungert, Mutti!' Ich sare: 'So siehste aus! Die verhungern im Leben nich. Die kriegen genuch von den Leuten!' Ich sare : 'Und wo is mein Kottlett geblieben? Die Katze hat das nich geholt!' 'Nein, Mutti. Deine Annie hat Sherry und Purzel...; das hat aber gut geschmeckt. Mutti! Du musst mal sehen, wie die sich gefreut haben!' Und so ging das nun immer. Ich sare: 'Meine Klopse auch! Haste auch gefüttert!' 'Ja Mutti. Bitte, bitte schimpf nich! Hau mich auch nich! Wirklich, die haben großen, großen Hunger gehabt!' So war se.”


Sie steht mit Fiffi am Fenster

mit Hund Fiffi (erster Fiffi,) und Kissen am Fenster gestanden (Eltern im Kino; ich bin ganz alleine), mit Leiter runtergeholt; Fiffi von Ehepaar bekommen


Katzengeschichten

Katzen im Kinderwagen

8 kleine Katzen; Weg von Weimar nach Belvedere

ein Erlebnis: Mutti ertränkt Kätzchen im Sack (da sie nicht weiß, was sie mit ihnen machen soll); Annemarie ist dabei und versteht nicht, was das bedeutet; Mutti sagt, die schwimmen jetzt dahin

ein Kater ist böse, faucht; Tante Klara traut sich nicht nach oben


Sie ertrinkt fast im Ilmbad

Die Töpfergasse führt zum Städtischen Ilmbad am Stadtrand (ein Freibad an der Ilm, am Elektrizitätswerk, die Ilm fließt durch das Becken, es existiert nicht mehr).

dort ertrinkt sie fast: Jungen reingeschubst, unter Wasser vom Nichtschwimmer ins Tiefe geraten, schon blau, Vati vom Sprungbrett gleich reingesprungen und gerettet


Ilmbad in Weimar um 1920


Gräte im Hals – mit Vati zum Krankenhaus


Mit Vati kullert sie die Wiese hinunter

mit Vati “Rolle, rolle, Röschen” [?] gespielt [ihr Spitzname ist “Sonnenröschen”, weil sie immer lacht]; Wiese runtergekullert


Die Buhlers

Vatis Schwester Klara und ihr Mann, “der Buhler”, wohnen in der Adolf-Hitler-Straße (früher Bürgerschulstraße, heute Karl-Liebknecht-Straße; ihr Haus wird später in DDR Zeit enteignet, nach der Wiedervereinigung bekommen sie Geld).

Klara Buhler macht Hutmacherei auf, die bald Pleite geht


Prinz Huschli Zumandri

Klara zieht auch einen kleinen Indonesier auf, “Prinz Huschli Zumandri” (verballhornter Name); der indonesische Vater hatte in Weimar studiert und eine Holländerin kennengelernt, die er nicht heiraten durfte; Klara (die mal ein Kind verloren hatte) zieht den kleinen “bildhüb-schen” Jungen mit “abgöttischer Liebe” auf; sein Vater kümmert sich nicht, aber schickt immer schöne Sachen; später wird der Junge abgeholt und Klara (die wohl hoffte, noch was zu “erben” [?]) hört nie wieder von ihm

einmal wollen Buhlers im Hof ein Familienphoto machen; Annemarie will mit auf's Photo, wird aber “weggejagt”; sie lässt sich jedoch nicht einschüchtern


Im Kindergarten

10 Mark im Monat; Tante Klara zu Mutti: “Du bist ja verrückt!”; mit Schleife im Haar rausgeputzt

dann auch Ballettstunden am Theater; Lotti ebenfalls; Ballettschuhe vergessen


Lotti hat Kopfsmjerzen

Mutti erzählt: “Die Lotti, meine Nichte da..., die sind ja – zwei Jahr is die älter [als Annemarie]: das Gegenteil! [Die war ganz ruhig?] Oh..., richtich phlechmatisch. Das war die Erziehung war schuld dran, weil ihr Vater war so, der Buhler. Er lag viel immer..., ich seh'n immer noch [vor mir], die Arme verschränkt hier, und denn liegen, nich. Er war'n Glatzkopf – mein Vater hatte ja auch ne Glatze – aber er trug immer so'n Käppi, wie's die Juden und diese Muslims auch tragen, so'n Käppi, weißte. Angeblich hatte er immer Angst, dass er sich erkältete. Ich sare: 'Die Glatze erkältet man sich nich so schnell.' ...Glatzmann der.

Na ja, jedenfalls dann musste seine Lotti, die lach denn auch immer da. Und wenn Annemarie..., die ärgerte sich denn, die wollte mit ihr spielen, ne...; nun gingen se ja beide zur Schule – Annemarie nich, aber die ging zur Schule, war ja zwei Jahr älter, oder ein [Jahr]. Na, und denn ärgerte sich Annemarie, dass se schon wieder dalag und immer, wenn wir kamen, dann sagte Annemarie: '...immer bloß schlafen!' Na, schlafen tat se ja nun nich. Und: 'Geh weg! Ich habe Kopfsmjerzen.' Schmerzen konnt'se nich sagen. 'Smjerzen', 'Kopfsmjerzen', nich. Und Annemarie – die war ja nun 'n Aas – denn hat se se nun gerüttelt: 'Los! Steh auf! Wir woll'n spielen.' Und: 'Ich habe meinen Puppenwagen draußen, den kriechste auch! Komm her!' Und er denn: 'Lass das Kind gehen! Lass das Kind zufrieden! Die muss jetzt Ruhe haben. Das Kind hat Kopfschmerzen!' Und die Annemarie, die war nun ganz anders. Aber sie [Lotti] hat Annemarie furchtbar gern. Die mochte se gern.”


Vati ab 1933 arbeitslos

arbeitet in der Saison als Aushilfskellner

[Vati nimmt eine Stellung in Sorau an; Mutti und Annemarie wohnen zeitweilig bei Buhlers in Oberweimar (?)]


Meine Mutti hat Nasenbluten”

Mutti erzählt: “Ich fuhr mit der [Annemarie] im Zuch nach Sorau. [In Weimar] da wohnt' ich bei Buhlers, bei denen, bei Lottis Eltern da, bei seiner [Vatis] Schwester [Klara] da, oben in Weimar – Oberweimar. Mir passte das da nich. Ach ich weiß auch nich; war alles nich so wie's sein sollte. Und da hab' ich ihm [Vati] geschrieben, auch denn einmal telefoniert. Und da sagt er auch: 'Kommt doch! Kommt doch mal her!'

Nun musste mal denken – das viele Fahrgeld! Sorau [heute Żary in Polen] – das ist Niederlausitz. Und dieses Weimar! Was das Fahrgeld allein kostet, na ja. Jedenfalls er wollt's haben. Und bin ich auch hingefahren. Da hat er ja auch 'n Zimmer für uns besorgt. Da bin ich denn auch geblieben. War sehr, sehr teuer, das Zimmer! Riesengroßes Zimmer – war wunderbar, toll!

Na, und wir fahren im Zug. Ich kann dir sagen, da hab ich ja viel erlebt! Die [Annemarie] war immer unterwegs, auch im Zug. Gleich nebenan da spielten die Männer Karten. Da stellte se sich dann bei – war se schon wieder Hahn im Korbe [Mittelpunkt]. Und ich hatte meine Periode. Ach Gott, ach Gott. Ich hatte meine Periode. Und ich mochte gar nicht aufstehen. Und ich glaube, man konnte auch hinten.., war was durchgekommen, 'n Fleck, oder wie. Na ja, und denn wollte se aber durchaus, ich sollte hinkommen, bei den Männern da kucken, nich. Ich traute aber mich nich hin! Ich dachte, oh Gott, du stehst gar nich auf. Kannste doch nich machen. Ich sare: 'Ja, gleich. Ich komme gleich!' Und wollte erst dann da zur Toilette. Und da sagt se denn so: 'Ja', sagt se, 'meine Mutti kommt gleich. Meine Mutti hat aber Nasenbluten jekriecht. Muss se sich den Fleck erst wegwaschen.' Oh ich habe mich geschämt –. [Und die haben das verstanden?] Na sicher ham die das jewusst! Nasenbluten –; die haben doch gesehen, wie ich da hinjegangen bin zur Toilette, ne. ...und hat mich so blamiert da...


Der is aber schöner als Sie!”

[Fortsetzung von oben] “Und denn saß ich da, unterwegs..., da mussten wer umsteigen. Das war'n Friseur. Na, das war ja auch'n Klapsmann! 'n Friseur, 'n Witwer. Und der war'n bißchen..., der war nun scharf auf mich, verstehste? So'n Verrückter, so'n Halbverrückter, [so] habe ich ihn eingeschätzt. Und meine Annie saß auch mit da. Und so'n Kind hat das Gefühl dafür, nich. Und ich dachte immer, Mensch dieser verrückte Kerl! Wenn der dich... Und sie kuckt immer nach dem hin, nich, und beobachtet den, kuckte mich denn wieder an. Ich denke, mein Gott! Ich sach: 'Kucken se mich doch nich immer an hier! Die Kleine wird ja schon ganz aufgerecht um Gottes Wille!' 'Ja', sacht er, 'is ja komisch! Merkt die denn das?' Ich sare: 'Na hören se mal. Das is ja wirklich allerhand!' Sie hört denn das und sagt: 'Ja, meine Mutti, die is geheiratet.' – statt verheiratet – 'Die is geheiratet. Wir fahren jetzt zu unserm Vati, nich Mutti? Aber..., der is aber schöner als Sie sind! Der is aber schön!' 'Ja, ich bin wohl nich schön' 'Nehehehe! Neee...', macht se, 'Mutti!? Nee...' Sachte der: 'Das 's aber ne Schlaue!' Ich sare: 'Ja, is auch ganz gut, dass se so is...' 'n Bärenheft war das!”


Einschulung in Weimar

mit Mutti und Vati vor dem Buhlerschen Haus nach ihrer Einschulung


Schul Rektor in brauner Nazi Uniform (1934?), nur halbes Jahr in dieser Schule


Vati arbeitet in Altenbrak

[Vati nimmt Stellung an im Hotel Brauner Hirsch in Altenbrak (Thale) bei Blankenburg (Harz)]


Sie zerschneidet sich die Pulsader

Bei einem Besuch in Altenbrak zerschneidet sie sich Pulsader und Sehnen, als sie beim Blumentragen (Blumen "am Verdursten"), mit der Kristallvase hinfällt.

Vati verbunden [?], Schlüssel zu Verbandskasten nicht gefunden, (Hotel Brauner Hirsch, wo Vati gearbeitet hat), Operation in Blankenburg; im Krankenbett drei Krähen gesehen, die sie auffressen wollen

Mutti erzählt: “Sie war äußerst intelligent. Altenbrak bei Blankenburg [war das], wo se hingestürzt is mit der Blumenvase. Hatte sich die Pulsadern und Sehnen aufgeschnitten. Da fuhren wer hin, weil der Schulrektor und der Schularzt das haben wollten. Hatte se so'ne Sehnsucht nach ihrem Vati. Sie war so eingestellt... – nun verstand er [Vati] ja auch mit ihr umzugehen..., großartig – mit andern Kindern ja auch; die Klara die war auch so. Die hatte das auch in sich, so – , das ist irgendwie ne Gabe.

Und wir fuhren dahin. Nun pass auf: Da musst ich zur Schule kommen. Also ich kriegte'n Zettel. Also 's fing zu Hause so an: Annemarie schlief zu Hause allein und hatte denn 'n Photo von ihrem Vati übers Bett..., hängen, mit Heftzwecken..., hat se sich angemacht. Und das erste Jahr war das, wo se in de Schule reingekommen war. Und er [Vati] kam nach Altenbrak [am Harz] hin. Das war ja Arbeitslosenzeit; er war doch froh, dass er da hatte Stellung angenommen. Hinter Blankenburg war das. Und nun war der Vati weg. Und meine Annemarie..., da dacht' ich immer, was hat die denn bloß? Und abends, wenn se ins Bettchen ging, da hört ich se denn: 'Gell, Vati, deine Annie schläft jetzt, Gute Nacht, Vati! Du gehst jetzt auch schlafen.' Und so ging das immer. Ich sare: 'Menschenskind! Was'n bloß mit dir los?' 'Na Gott, Mutti, ich muss doch'm Vati Gute Nacht sagen!' und so. Ich sare: 'Nu, is gut.' Aber essen [wollte se] fast gar nich mehr.

Und dann kriegte ich mit einem mal 'n Brief mit, ich sollte zur Schule kommen. Und da bin ich je denn auch hin, Und was denkste, was da war? Mir sagt der Lehrer: 'Tja, Frau Scholz, ich wollte Ihnen nur sagen; die Annemarie, wissen se Frau Scholz..., Ihr Mann is wohl nich zu Hause?' Ich sage: 'Na, mein Mann is weg in Stellung – ja, außerhalb.' 'Ja, das hat mir Ihr Töchterchen gesagt. Das weiß ja die ganze Klasse hier!' Und da sagt er: 'Ja, Frau Scholz, und der Schularzt hat festgestellt, dass se vollständig unterernährt ist.' Ich sare: 'Ja, was is'n das, unterernährt?' Wusst ich nich mal, was das war – der Ausdruck 'unterernährt'. Ich sare: 'Ja, wie meinen se'n das?' 'Sie ist zu dünn!' Ich sare: 'Mein Gott! Wenn se nichts isst!? Sie isst ja kaum was. Und wenn se was isst, sie isst ja nichts was dick macht.' 'Tja', sagt er, 'ob das nich 'n andern Grund hat?' 'Ich sare: 'Was denn? Wie 'n andern Grund? Wie meinen se'n das? Die ist doch nich krank?' 'Nein, aber seelisch krank.' Ich sare: 'Meine Tochter seelisch krank?' 'Sagen se mal, hängt die sehr an Ihrem Mann?' Ich sare: 'Na klar. Das tut se.' 'Ja, die schreibt ja auch, schreibt Briefe. Die verkauft se an die Kinder.' Ich sare: 'Meine Annie?' 'Ja. Zettel.' Ich sage: 'Und die verkauft se. Was schreibt se denn da?' 'Die schreibt von Ihrem Mann auf. Dass Ihr Mann weg ist. Die hat große Sehnsucht nach ihrem Vater.'

[Annemarie und Mutti gehen dann noch einmal zusammen zum Lehrer. Der fragt Annemarie, ob sie verreisen möchte – nach Altenbrak. Annemarie sagt:] 'Nein, das könn'n wer doch nich! Sie sagen doch immer, ich hab ne Saupfote [schlechte Handschrift]!' Ich sare: 'Wie?!' 'Ja', sagt er, 'das habe ich schon gesagt. Das stimmt.' [Sie sagt mir immer:] 'Aber Mutti, ärgere dich nich. Meine Saupfote die wird schon wieder gut werden, nich?!' 'Ja', sagt er, 'sehn se so isse nun, das's de Annemarie! Ja, das wird schon besser mit deinem Schreiben. Ja, ich würde Ihnen raten hinzufahren!' 'Nach meinem Vati?' sagt se. 'Das darf ich?' 'Ja, das darfste! Du holst das nach. Du bist intelligent! Du bist doch fleißig?' 'Ja, das bin ich. Ich hole alles nach.' sagt se.

Na gut. Wir gehn nach Hause. Ich sare: 'Ja woll'n wer denn?' 'Sofort!' sagt se, 'Mutti, wir fahren sofort!' Ich sare: 'Das könn'n wer ja nun nich!' Meine Schwiegermutter – ich kuck am Fenster, vormittags – meine Schwiegermutter, die kam da und saß da unten auf der Bank in den Anlagen – ich denke, jetzt gehste mal runter und sprichst mal mit ihr, was die so sagt. Na, meine Annemarie, wir gehen runter, und da sagt se schon: 'Omi, Omi, wir fahren nach'm Vati, wir fahren nach'm Vati!' 'Du aber nich!' sagt se, die Omi nun. 'Du fährst nich mit. Dann lass deine Mutti allein fahren. Du bleibst bei mir.' 'Hier... [sie zeigt ihr einen Vogel]', macht se zu ihr. 'Was?' sagt die. 'Das machst du zu deiner Omi?' 'Omi, ich fahre zum Vati hin!' 'Nein', sagt se zu mir, 'das machste nich. Lass das Kind bei mir, nich!' 'Mutti, gell das machste nich, nich? Du fährst doch mit deiner Annie! Nein, Omi, ich bleibe nicht bei dir!'

Na, und nun ging das los: 'Na, dann biste nich mehr meine Annerl, du bist dann nich mehr mein Annerle!' 'Egal, ich fahr zum Vati. Ich sag auch schöne Grüße von dir.' Und die war wütend, nich. Erstmal, sie hatte se gern, nich, so um sich, und mochte se gern und wollte se nun gern behalten. Und auch wegen hier, wegen Pulver [Fahrkarte zu teuer?]. Und da hat se Anne-marie noch versprochen: 'Ich kauf dir auch was Schönes!' Nein, sie wollte nichts haben. Sie wollte zum Vati. Na, nun war die Sache erledigt; hab ich gesagt, wir fahren.

Hingeschrieben und er [Vati] telefonierte gleich, da musst ich denn auch rüberkommen, da wo er anrufen konnte, da die'n Telefon hatte [die Nachbarin]; sagt se: 'Ihr Mann is am Apparat, Frau Scholz!' und ich soll mal dran kommen, bin ich auch gleich hin. Sagt er: 'Sofort kommste her mit'er Annemarie! Ich mache euch gleich'n Zimmer aus. Dann kommste her, nich!'

Na, ich mit meiner Annemie losgejockelt. Jetzt mussten wir von Blankenburg mit'em Bus noch'n Stück fahren – als wenn de von hier [Goslar] nach Jürgenohl mit'm Bus fährst. Und sie steht nun so inner Mitte vom Bus, 'n bißchen mehr nach'm Fahrer zu. Und der Bus war ja nun voll. Und mit einem Mal fängt die an. Wollt se an die Tür und will rausspringen. 'Mein Vati ist da!' sagt: 'mein Vati ist da, mein Vati, Vati,Vati!' Nun konnte er ja nun noch gar nich hören und sehen. Aber sie sah ihn schon, nich. Da hinten anner Haltestelle. Großer Gott! 'Halten se das Kind fest!' sagt der Fahrer natürlich zu mir. 'Um Gottes Willen! Haltense's Kind fest!' Ja, ich festgehalten.

Na, wir kommen an. Die erste...: 'Mein Vati! Mein Vati!' und heult und heult. Tränen rollen immer runter. 'Vati, deine Annie freut sich ja so! Das sind keine Tränen, Vati. Glaub nur, das sind keine Tränen! Ich freue mich ja so, Vati!' Und ich ja auch. Er heulte auch tu. Und die Leute alle. Ich konnte nich aussteigen. Ich sage: 'Nun lassen se mich doch wenigstens aussteigen!' Alle standen immer rum und die alten Weiber da heulten auch. Kannste dir sowas vorstellen? Das hätte müssen geknipst werden, du. [Es] stand dann nachher inner Zeitung – Blankenburger Zeitung [Blankenburger Kreisblatt ?].


Altenbrak mit Hotel Brauner Hirsch


Meine Annemarie – das war ja nich möglich. Die hat gegessen von dem Tag an! Immer bei ihm [Vati] da. Er hatte immer denselben Tisch reserviert. Die hat gegessen wie'n Scheunen-drescher. Die hat alles aufjeholt, so erholt da – wunderbar. So hat's ihr geschmeckt. Nur der Vati. Der Vati nun fragte dann immer: 'Was möcht'ste haben ?' und so, ne, und bedient uns. Na, sie war glücklich. Bis zum letzten Tag. Bis se dann verunglückte. Da mussten wer dadurch länger wieder bleiben. Da blieben wer dann nochmal drei Wochen, glaube ich. Hatten wer nochmal wieder reserviertes Zimmer.

[Wo ist das passiert?] Da drinnen im Lokal. Unsere Koffer standen schon draußen. Wir warteten auf'n Bus. Und die [Annemarie] sagt so: 'Ach, Mutti...' – der Saal, 'n großer Saal, und frisch gebohnert, und alles Parkett, kannste dir denken wie glatt das is, nich; vielleicht zum Tanzen eingerichtet. Und auf dem Tisch da standen die Vasen. Und sie sagt dann: 'Die armen Blumen – die haben ja kein Wasser!' Und ich hatte auch keine Ahnung nun, was los war. Und die läuft rein in'n Saal – nun waren das ziemlich lange [Vasen], wo so zwei Blumen reinpassen. Und die schlägt dahin – direkt mit dem Arm nun drauf. Kaputt die Vase und denn alles durch [Schlagader und Sehnen]. Und denn schrie se.

Vati war inner Küche; gerade reingegangen. Und wir warteten draußen. Ich saß dann da noch anner Veranda. Und die schrie: 'Vati, Vati!' Rannte nun gleich in die Küche rein, wo er war. 'Vati, Vati, ich will nicht sterben! Vati, ich will leben! Vati, ich will bei dir bleiben! Vati, ich will nicht sterben!' schrie se. Und ich denke..., na ist doch verrückt, is se! Von so'm Hinfallen kann man doch nich sterben, nich. Und jetzt..., das viele Blut da. Und keine Ahnung was los is. Und die Frau da, die alte Frau, die Chefin da, die Mutter [des Chefs], die wusste sofort, was los war, die riss gleich 'n Handtuch ab, da vom Haken, und hat denn gleich zerrissen und hier drum und hier auch drum [den Arm verbunden]. Und da sagt se: 'Die muss sofort zum Arzt!' Na, nun komm da mal in so'n Nest, wo nur Touristen sind – und denn kein Arzt.

Ich hatte se so anner Hand und in dem Moment kommt 'n schwerer Wagen anjefahren, 'n Tourist, also mit'm Herrn drin, großer Wagen, nich, wie so'n Mercedes. Und dann 'n beleibter Herr, wie mein Vater ungefähr, der sitzt da am Wagen. Ich sage: 'Um Gottes Willen, könn' se nich zum Arzt fahren, ist das möglich?' 'Sofort kann ich das!' 'Hier gibt's aber keinen!' sagte die Frau da vom Hotel. 'Wir ham hier keinen Arzt. Da müssen se nach Blankenburch fahren!'

Und der gleich meine Annemarie genommen und innen Wagen rein und ich mich auch reinjesetzt und sofort da mit hingefahren ins Krankenhaus. Und da isse ja dann genäht worden. Da is das ja jemacht worden. Und da wollte se nich rein. Da war grade vorher 'ne Operation jewesen. Das war so'n Pech, weißte. Da war grade die Operation vorbei und das Blut das saß da noch alles da, die Bandagen und alles, das war ja ekelerregend, ekelhaft. Und wenn das so'n Kind sieht, nich! Und da fing se an zu schreien. Ob se jedacht hat, se würde jeschlachtet, oder was? Was denkste, was die für Ausdrücke jebraucht hat, die ich noch nie von ihr jehört hatte. 'Du Aas, du Luder du! Du willst nicht hierbleiben bei deiner Annie!' Ich durfte doch nun da nich mit rein. Der Arzt sagte: 'Gehn se raus! Sie muss sofort...' Der hat losjemacht gleich [die Ban-dagen]. Das war höchste Zeit. Das war geronnen. Das war nich richtich gemacht worden. Das kam wie'n Strahl rausgeschossen. Und das war ganz schwarz, das Blut. Die hätte können 'n Brand dazu kriegen; 's war höchste Zeit. Und ich musste schnell raus. Die Schwestern kamen sofort. Da schrie se dann noch hinter mir her. 'Na, du hast ja schöne Ausdrücke!' sagte der Arzt. Und..., die hat Ausdrücke jebraucht.

Und nachher, wie das nun fertich war, nun war se [in] Narkose. Und der Herr der wartete da. Schade, ich habe mir den Namen [und] alles nich sagen lassen. Und der wollte nun gern Nach-richt mal später haben, und so. Aber ich war ja so aufjeregt und war so weg, dass ich nach gar nichts frug. Und wir warteten nun da vor dem Wartezimmer da. Und meine Annemarie kam nach 'ner Stunde – so lange hatte das gedauert, und die lag noch in Narkose. Und die Schwester [sagte]: 'Die wacht gleich auf, Frau Scholz.' Na, und dann wachte se auf. Und dann sagt se: 'Mutti, biste da? Mutti, biste da?' 'Ja, ich bin da.' sar ich. 'Mutti! Schimpf nich. Ich konnte ja nichts dazu! Ich konnte wirklich nichts dazu, Mutti! Das haben doch die Blumen gemacht!' Ne..., die Blumen waren dran Schuld. Ich sare: 'Nein, haste ja auch nich.' 'Mutti! Schimpf nich mit deiner Annie! Biste wieder gut, Mutti?' so ging das gleich. Und da sagte der Arzt: 'Sie haben aber ein reizendes Kind! Is ja einmalich!' Na, hat er se dann hingenommen, getragen ins Auto rein und [der Herr] hat uns dann hingefahren, wieder, nach Altenbrak.

Und wir beide, der und ich, wie ich draußen nun saß: 'Oh Gott', sagt er, 'Sie sehen so elend aus! Es geht Ihnen so schlecht. Dann hamse doch nich solche Angst! Die wird schon wieder, die Kleine! Das wird jenäht...' und so. Hab' ich jebetet. Und er guckte mich dann so an. Und er hat auch die Hände gefalltet. 'Lieber Gott! Lass bloß meine Annemarie wieder werden!' hab ich immer gesagt. 'Lieber Gott, lass se doch bloß wieder gesund werden! Lieber Gott!' 'Ja', sagt er, 'Gott, der hat das schon erhört.'

[Und nachher mussten die Fäden wieder gezogen werden?] Ja, hatten wer wieder so'n [Theater]. Isse wieder ausgerissen, tu. Mussten wer wieder hin. Da [sind die Fäden] noch nicht [gezogen worden]. Dreimal im Ganzen [mussten wir hin]. [Beim] zweitenmal wurde erst gekuckt, nachgesehen, wie weit das gekommen war. Ob's gut verheilt war, und so. Da kriecht ich se nich rein. Na ja, hinterhergelaufen; ham wer se jeschnappt und denn musste se rein. Hat se auch geschimpft wie'n Rohrspatz. Der Arzt sagte mir auch, wie se inner Narkose gelegen hätte, hätte se auch so geschimpft. Ihn hätte se ausgeschimpft; ...der Doktor...; 'A', wie 'Arschloch' [?] 'Du hast ja schöne Ausdrücke jebraucht für mich!' sacht er. 'Du hast mich ja ausjeschimpft.' Nun muss man sich auch vorstellen: einmal nun dieser weiße Kittel; er war so'n Lulatsch wie du [Rolf-Peter], so'n großer, ne, und stand nun da oben auf'm Balkon wie so'n heiljer Geist da. Und man hatte ja selbst 'n bißchen Schauer, nich. Viel mehr die [Annemarie].

Und sie war dann unten, wie se dann wieder sagt: 'Nein, ich will nicht rein! Nein, ich will nicht rein! Mutti, ich will nicht rein!' Ich sage: 'Annemie, der will doch nur nachkucken was los ist. Der macht doch gar nichts mit dir!' Bums! ...war se schon wieder verschwunden, schon wieder wechjelaufen. Bis dann die Schwestern kamen. Die mussten mitkommen. Er stand da oben. Ich dachte, wenn das Arschloch doch bloß wechginge, nich! Die sind beschnappt, da oben, dacht ich auch noch. Wenn er doch bloß verschwinden würde! Na ja, und wie er dann weg war, sagt se: 'Mutti, gell, jetzt brauch ich nich mehr rein. Mutti, der is ja nich mehr da, ich brauch nich mehr rein, nich?!' 'Wir müssen doch rein! Es hilft doch alles nichts.' Ich sare: 'Ich kauf dir auch was Schönes.' Sie wollte ja gar nichts haben. Die Schwestern wachteten so geht das ja nich weiter na ja, dann bin ich von einer Seite..., und die Schwestern haben sich verteilt, die sind vonner andern Seite, so ham wer se jeschnappt. Und wie se dann geschimpft hat, ne!

Und dann nachher, wie die Fäden gezogen wurden, da war's nochmal so. Da sagte der Arzt denn: 'Ich habe de Nase voll..., mit dir..., so'n Patient – dich möcht ich nich nochmal haben!' 'Ich komme auch nich wieder her!' hat se jesacht. 'Was ham wer dir denn jetan?' 'Ja – ich habe solche Angst gehabt. Ich habe solche Angst gehabt.' sagte se denn.

Das stand auch in der Zeitung drin. Von einem – wie stand da? – Oberkellner die Tochter, das einzige Töchterchen verunglückte, und so weiter alles so. Und schon wie wer anjekommen waren mit dem Autobus, das Theater da, das müssen aber Leute haben [reinsetzen lassen]. Die haben mich ja auch besucht, wie se da im Krankenhaus lag. Mensch, die hat so viel... Blumen über Blumen und Geschenke gekriegt – da von den ganzen Leuten da. Ich sare: 'Na, das möcht'ste wohl immer so haben, dann kriegste immer viel, nich?' 'Nein!' Der Arm war nun – wie sagt man? – in Bandagen und so, dass er so lag. Da ist die schon wieder mit den Kindern in' Wald jegangen, hat Pilze jesucht und Erdbeeren und alles. Die war nich zu halten. Und ich sare: 'Was hat'er Doktor jesacht? Wenn du hinfällst..., du musst sehr vorsichtich sein. Und die kam an, die Kinder kamen vorwech gelaufen – war se wieder jestürzt. Darum war ich ja dann des zweite Mal schon wieder da. Aber war nichts passiert.

Na ja, nun waren wer nochmal drei Wochen da. Aber der hat sich nichts draus gemacht, der Lehrer [Annemaries Schullehrer in Weimar]. Der war sehr nett. Dass se nun [gestürzt war], das war ja nun Pech! Aber sonst war's schön. Sie war ja an und für sich..., sie war ja einmalich – wirklich wahr.


Onkel Männe

Onkel Männe aus Amerika (Hermann Sperling, Cousin von Mutti) besucht sie

versucht, zum Verlassen von Hitler Deutschland zu überreden: "Es gibt 'nen Krieg!"


Bei Onkel Otto in Deensen

Ferien von Schule genommen; bei [Groß-]Onkel Otto Sperling und Tante Marie (noch zwei Töchter) in Deensen bei Kreiensen

Onkel Otto ist Bahnhofsvorsteher vom Bahnhof Deensen-Arholzen an der Strecke Altenbeken-Kreiensen, Hühner gefüttert;

dann in Deensen in die Schule gegangen; einmal ein Gedicht im Radio aufgesagt:

Mitten auf der Wiese
sitzt die kleine Liese
im grünen, grünen Gras.
Sie träumt sich sacht in Schlummer,
da kommt ein großer Brummer
und fliegt ihr auf die Nas´.

"Weg, weg! Du alter Brummer!
Störst mich in meinem Schlummer!
Willst weg! Was soll denn das?"
Der Brummer brummt gemütlich:
"Ach Lieschen sei doch friedlich.
Ich mache doch nur Spaß.

Onkel Otto verhaut sie einmal; als die Tante sie auffordert, reinzukommen, weigert sie sich und sagt “Du kannst mich mal fettlecken!”

Otto Sperling ist der Bruder von [Groß-]Tante Hermine und von Anna (Großmutter);


Einschub: Geschichte von Tante Hermine und Onkel Männe

“Tante Hermine” (Hermine Sperling, Muttis Tante); ihre Schwester Anna Sperling (Muttis Mutter), ist ihre Lieblingsschwester; Hermine war “unkonventionell” (etwas “daneben-geschlittert” aber “herzensgut”); sie besaß einen Zigarrenladen zur Zeit als Annemaries Großeltern die Garküche an der Abzucht betrieben; sie hatte auch einen unehelichen Sohn, Hermann Sperling (“Onkel Männe”), von einem Fabrikbesitzer(sohn ?), der sie nicht geheiratet hatte (sie war untreu?); ihr Bruder (besagter Otto Sperling aus Deensen) legte seiner Schwester [symbolisch?] einen Strick hin, als diese ihren unehelichen Sohn Männe bekam; daraus folgte die spätere Feindschaft zwischen Onkel Männe und (dessen Onkel) Onkel Otto

Tante Hermine war wohlhabend zu der Zeit (später verarmte sie) und streckte Annemaries Großeltern Goldstücke vor, um den Bayrischen Hof in Goslar, Bäringerstr. 2, zu kaufen; der vorherige Besitzer hatte “nicht viel aus dem Haus gemacht” (Holz wurde auf dem Klavier gesägt?); die Großeltern nahmen dann den Sohn von Tante Hermine auf, der also mit Mutti wie ein (etwas älterer) Bruder im Bayrischen Hof in der Familie Hermann und Anna Wolter aufwuchs, auch den Namen Hermann (“Männe”) erhielt und dann auch – wie sein Onkel – Schlosser lernen musste

Männe ging dann aber (auf Muttis Anraten? – “hier in Deutschland hast Du doch keine Zukunft!”) “zur See”, wurde Matrose, und ging in Amerika nicht wieder an Bord (blieb dort als illegaler Einwanderer), arbeitete als Butler bei einer steinreichen Familie; Irmgard, die er in Bremerhafen vor seiner Abreise kennengelernt hatte und die dann dort Ronnie geboren hatte, kam später nach und wurde seine Frau; beide arbeiteten als Butler bei reicher Familie (Alko-holiker, die nachts ins Bett getragen werden mussten – wie in dem Film “Dinner for One”); Ronnie wuchs in einer anderen Familie auf; Tante Hermine wusste nichts von alledem

Irmgard und “Onkel Männe” 1955 zu Besuch in Deutschland


spätere Zwistigkeiten, als Onkel Männe aus Amerika zu Besuch kommt, mit Mietauto nach Deensen fährt und dort auf Onkel Otto stößt

Tante Hermine ist auch Taufpatin von Annemarie (nennt sie “unser Sonnenscheinchen”); später gute Freundin von Mutti, Mutti hat sie in Weimar aufgenommen; später zusammen in Zimmer 11 [?] im Bayrischen Hof gelebt, bis sie Zimmer räumen müssen für Frau Wolter; Tante Hermine später verarmt und an Kehlkopfkrebs gestorben; Armenbegräbnis



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(Vorwort, Karte, Inhalt)

  Annemarie Wille (geb. Scholz) Biographische Anekdoten in Stichworten von ihrer Geburt (Goslar 1927) bis zur Geburt ihres ersten Sohne...