Wednesday, June 15, 2022

Goslar, Erfurt, Nordhausen (1927-1930)

 

Goslar

Vorgeschichte und frühe Kindheit



Annemaries Mutti, Luise Wolter (rechts) mit ihren Eltern



Ihre Großmutter stirbt


Annemaries Großmutter (Muttis Mutter) Anna Wolter (geb. Sperling) stirbt 1926 [?].

“Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah!” lässt Annemaries Großvater Hermann Wolter auf den Grabstein seiner Frau setzen. Doch ein Jahr später geht er schon wieder "auf Brautschau" nach Weimar. Dort trifft er Marie(chen) Möller (genannt Putti, viel jünger, später “Frau Wolter” genannt) beim Tanz [?]


Ihre Eltern treffen sich

Vati (Willy Scholz, 1902-1966) arbeitet zu der Zeit als Kellner in Goslar im Goldenen Stern, Bäringer-straße 6. Nach seiner Arbeit besucht er hin und wieder den Bayrischen Hof, Bäringerstraße 2, Dort lernt er Mutti kennen (Luise Wolter, genannt Lisbeth, 1903-1992)

Mutti: "Wieso sprichst du so komisch?" Vati: "Ich komme aus Weimar, der klassischsten Stadt Deutschlands."

Vati kennt zufällig auch Marie Möller vom Tanzlokal (beide sind aus Weimar; geboren ist Vati eigentlich in Schmalkalden).


Vati (Willy Scholz), rechts, mit Bruder und Vater


Mutti ist in Umständen

Sie ist sehr naiv; sie denkt, man kann ein Kind auf dem Klo durch "Drücken" verlieren.


Geburt und Taufe

Annemarie ist am 8. Dezember 1927, im Hotel Bayrischer Hof, Zimmer 11, geboren

Mutti und Vati sind noch nicht verheiratet (Mutti hatte Nierenbecken Entzündung; Annemaries Großtante, Hermine Sperling, versorgt Annemarie). Ihre Eltern heiraten Pfingsten 1928 und ihre Taufe ist am gleichen Tag in der Frankenberger Kirche.


Mutti und Vati haben Stellung in Erfurt

Annemarie bleibt eineinhalb Jahre im Bayrischen Hof, von ihrer Stiefgroßmutter Frau Wolter versorgt.

Frau Wolter, Mutti, Vati und Annemarie (späteres Photo von Rolf-Peters Taufe, 1954)


Sie schläft im Zimmer der Großeltern.

Ihre Großeltern schlafen zusammen. Sie hat eine Couch im gleichen Zimmer und kann alles hören.


Sonnenröschen”

Mutti erzählt: “Auch wie se ganz klein war, hier unten [im Bayrischen Hof] und ich will zu meinem Vater hier hin, unten. Und ich weiß gar nich, er [Annemaries Vati] war nich mit dabei. Der Vati war nicht hier. Und ich hatte se auf'm Arm – so klein wie sie war. Und hier war'n Kellner, der kellnerierte, der war ja auch nett. Koch hieß er, netter Kerl, der war bei meinem Vater da in Stellung. Und kam raus [aus dem Restaurant] auf'n Flur. Ich hatte meine Annie auf'm Arm. Und meine Annie macht denn: 'Huhu, hallo, huhu', machte se dann; sprechen konnte se noch nich viel. Und der sagte denn: 'Jaha. Wir kenn'n uns schon, nich! Du kennst doch den Onkel?' 'Hmm', machte se denn. 'Hmm.' Und er kam denn näher: 'Küsschen – Schnurrbart.' Er hatte'n Schnurrbart. Ha! Da wollte se'n Küsschen von dem haben. Denk mal an!

Da sagt er: 'Ihre Kleine, Ihre Annie, die kenn ich zu genau.' Durch meinen Vater: Jedesmal wenn er se auf'm Arm hatte, dann musste er kommen. So gern hatte se den. Rief se immer: 'Hallo', machte se immer. Als Baby – stell dir mal vor! 'Hallo...', dann kam er denn hier. Freute sich so. Weil er'n Schnurrbart hatte. 'Küsschen...' Ich sare: 'Das is ja allerhand!' Ich sare: 'So genau kenn'n se meine Annemie schon?' 'Ja', sacht er, 'das'n Bärenheft.' sacht er. 'Ich mach se furchtbar gern. Das's so'n richtiger Goldengel!' sagte der immer. 'Sonnenröschen' sagten se immer zu ihr. 'Sonnenröschen', weil se immer lachte und fröhlich war, nich... und viel Temperament hatte, mochten se sie furchtbar gern.”


Als Mutti einmal zu Besuch kommt, sitzt “Annie” allein auf dem Fußboden von Zimmer 1. Sie erkennt Mutti nicht und nennt sie “Tanti”.


Bayrischer Hof (Photo von 1960 mit Rolf-Peter, Annemarie, Vati, Mutti)





Erfurt



Annemarie hat keine persönlichen Erinnerungen an Erfurt. Sie war noch zu klein. [1930?]


Durchgangslokal

Ihre Eltern haben ein kleines Lokal [gepachtet]. Die Küche ist im Keller, oben ist es ein Durchgangs-lokal.

“Der Buhler” (Onkel “Willy Buhler”) sitzt stets im Café (von Weimar hingefahren anstatt zu arbeiten; er ist immer recht “undurchschaubar”)

[“Der Buhler” ist der Mann von Tanta Klara, Vatis Schwester.] Mutti: “Klara war bildschön, fiel auf, schlanke Taille; groß, schönes Gesicht; erster Preis im Tango Tanzen”

Familienvergnügen Schlitten gefahren



Das veflixte Zeitungsinserat

Für das bevorstehende Schlachtefest soll ein Inserat in der Zeitung stehen: "FF Gehacktes" [FF = fein fein = vorzüglich]. Arbeitet Till Eulenspiegel bei der Zeitung in Erfurt? Leider erscheint das Inserat mit einem Druckfehler: “FF Gekacktes” lustig, aber doch so peinlich, dass Annemaries Eltern deswegen offensichtlich gekündigt haben.

Von nun an beginnt Annemaries “Nomadenleben” (jedes Jahr, oder alle zwei Jahre, in einer anderen Stadt); es beginnt in Nordhausen am Südharz, wo Vati Stellung annimmt.





Nordhausen


Walther Hans Reinboth: Lutherbrunnen in Nordhausen um 1930



Vati arbeitet als Kellner in einem Lokal. Sie wohnen in einem “weißen Haus am Wasser” [die Zorge?].


Das blaue Buch einschreiben”

Annemarie ist sehr selbständig und resolut und kann schon einkaufen.

Schräg gegenüber gibt es ein Geschäft. “[Einmal stehe ich] am Thresen und der Verkäufer fragt: 'Frau Scholz, wie ist es denn mit den Schulden? Woll'n se die man nich mal bezahlen?' Ich sage: 'Ich, Schulden? Wie komm se'n darauf?' 'Na, wasse einjekauft ham, was Annemarie jeholt hat!' Das gibts ja wohl nich; blaues Buch für Schulden, im blauen Buch einschreiben (das hatte se von andern mitgekriegt); an der Wand hingen Nuckel mit bunten Ringen.” Mutti will ihr das Nuckeln abgewöhnen. Sie hört oft ein Schmatzgeräusch, wenn Annemarie eingeschlafen ist; aber wenn sie ins Zimmer kommt, ist der Nuckel weg.

Die Schulden? “Zigaretten, Bohnenkaffee und dann die Schnuller. Das wissen Sie gar nicht?” Mutti denkt, alles ist von Vati (aber das ist gar nicht wahr). Wenn Mutti Vati ausgeschimpft hat: “Du mit deinen Zigaretten und Bohnenkaffee! Das is ja schrecklich!”, tröstet Annemarie Vati: “Ärgere dich nicht! Vatis müssen rauchen! Und müssen Bohnenkaffee trinken!” Das hatte er ihr beigebracht.

Na ja, Mutti hat's bezahlt [die Schulden]. Abends spricht sie zu Annemarie: “Du, sag mal, wie isses eigentlich mit'em Nucki? Hast keinen Nucki mehr?” “Nein! Deine Annie hat keinen Nucki mehr!” “Du nuckelst nich mehr. Aber du hast drüben Nuckis gekauft! Nich?” “Ja...” “Und wo sind die Nuckis?” “Die sind nich mehr da.” “Und Bohnenkaffee haste auch gekauft?” “Ja. Für Vati.” “Und Zigaretten?” “Ja. Vatis müssen rauchen.” “Und wo hast'en das Geld her?” “Ja, Mutti. Du hast ja auch immer kein Geld. Du bist ja eine arme Frau.” “Ja. Das bin ich!” (Annie sagt immer zu Vati: “Geh doch nich arbeiten!” “Aber wir sind doch arme Leute! Mutti is eine arme Frau. Ich muss Monni, Monni [money] verdienen!”) “Und Geld?” “Die Annie kann immer ohne Geld kaufen. 'Das blaue Buch einschreiben' hab ich gesagt.” Sie war ganz stolz darauf. Vati will sich kranklachen.


Hab ich gewaschen!”

Mutti erzählt: “[Ich sage zu Annie:] 'Deine Schlüpfer sind immer dreckig. Ständig muss ich die waschen. Das macht mich verrückt!” Jetzt kommt die ohne Schlüpfer an. Weg. 'Hab ich gewaschen!' 'Wo denn?' 'Im Wasser.' [Sie wohnen am Wasser. Es ist nicht tief. Man braucht nur runterzugehen und ist schon am Wasser.] Hat se wegspülen lassen. Einmal kommt se ohne Schuhe.” Mutti hat geschimpft und ist mit Kindern [die dort gespielt haben] bis zum Wehr gelaufen. Aber die Schuhe hat sie nicht wiedergekriegt.


Tschingderassabumm

Nach Muttis Erzählung: “In Nordhausen geht Vati arbeiten in einem Lokal. [Es gibt auch] Nachtbetrieb. Am Tage geht Annemarie gerne mit, [um das] Silber zu putzen: 'Deine Annie arbeitet mit.' Sonst spielt sie viel mit Kindern [am Fluss ?]. Er [Vati] muss um 8 [Uhr] im Laden [Restaurant] sein. [Nun war es den Tag] schon 6 – Annie ist nicht da; 7 – nicht da. Er [Vati] rief draußen. Sie soll ins Bettchen kommen. Sie ist nicht da. Großer Gott! Andere Kinder gefragt – keiner weiß was. Vati sagt [zu mir]: 'Wenn das Kind nicht da ist, ich hänge dich auf! Ich hänge dich auf. Schaff mir das Kind heim! Ruf mich sofort an, wenn die Annie da ist, damit ich beruhigt bin.'

Er [Vati] ist 10 vor 8 los [zum Lokal]. Ich laufe auf [der] Straße [ent]lang. Rufe immer: 'Annie, Annie!' Mit einemmal: 'Jaha, jaha!' Ich laufe der Stimme nach. Eine Dame aus gutem Stand hat sie an der Hand. 'Sind Sie die Mutti?' 'Ja!' 'Also, die ist ja einmalig, die Kleine! Dann bin ich hier doch richtig! Sie hat mich geführt und hat gesagt 'n weißes Haus am Wasser!: Wie heißt du? Annie.' – Den andern Namen wusste se nicht. – 'Und was ist dein Vati?' – ...hat se nich Kellner gesagt. Hat Vati ihr beigebracht: 'Mein Vati ist Speisebeförderungsassessor.' – Sie konnte die schwersten Wörter. Bereits als Baby [?!]. Petroleum konnte se sagen. Mit Dreiviertel [Jahren ist sie] gelaufen und konnte auch sprechen,

[Die Dame fragt sie:] 'Nun sagen se mal; was denken se denn, wo Ihre Kleine war? Was denken se denn, wo wir jetzt herkommen?' 'Weit wej!' sagt Annie. 'Ganz weit, Mutti, ganz weit.' [Die] Dame sagt: 'Ne Musikkapelle ist marschiert. Und da isse immer mitmarschiert – bis ins nächste Dorf.' Und die Dame wohnte da, im nächsten Dorf. Bis dahin ist sie mitmarschiert. Und da hat se sich keinen Rat mehr gewusst. Und die Dame hat da gestanden. Und da hat se die an den Rock gefasst und gesagt, sie wollte nach Hause. 'Wo biste her?' 'Nordhausen.' Das wusste se. Die Straße wusste se auch nicht. Aber weißes Haus am Wasser – das wusste se.

[Mutti schimpft.] Annemarie ist im Bett. 'Mutti schimpf doch nicht. Das war doch so schön!' Macht immer tschingderassa im Bett – aufgeregt bis dorthinaus. [Mutti sagt:] 'Aber Vati ist so unglücklich!' 'Wir gehen hin!' 'Soll'n wer?' 'Bitte, bitte! Lass mich zum Vati!' Habe ich se an die Hand genommen. Sind wer hingegangen – Vati [ist] glücklich.”


Mit dem Onkel darfste tanzen!”

Nach Muttis Erzählung: Mutti ist für zwei Tage zu einer Hochzeit in Ildehausen eingeladen und fährt zusammen mit Annemarie von Nordhausen hin. Es gibt 45 Gäste in Ildehausen und ein Saal ist extra gebaut worden für die Feier. “Und Annie sollte schlafen; und das Luder hat geschrieen. Tante Hermine sagt: 'Hol bloß das Kind runter, man kann's nicht ertragen! Die schreit ja in einer Tour!'

Angezogen, mit runterjenommen in'n Saal wo jetanzt wurde. Und – nun pass auf – was jetzt war. Ich tanze. Ich wurde aufgefordert. Da sacht se: 'Nein, Mutti! Mit dem darfste nich tanzen!' Und jetzt tanzte ich nun. Da kommt se dahin beim Tanzen – hat mich nich tanzen lassen. Nein! War nich möglich. Mein Vater saß dahinten. Der sagte: 'Nein, das ist ja unmöglich! Das kann man ja gar nich ertragen.' 'Mutti! Mutti! Meine Mutti! Ich sach's 'm Vati!' Immer an'en Rock gefasst; 's hat ja keinen Zweck! Müssen wer aufhören zu tanzen. Da war se glücklich.

Da saß se nun mit an einem Tisch. Freute sich ja so, dass se da war. Das war ja schön für se. Jetzt kommt'n Onkel von mir. So'n alter Tatterich. War schon ziemlich alt, so anne 70. Der will mich auffordern und sagt: 'Komm Lisbeth, wir tanzen mal!' Und weißte was se da sagt? 'Ja mit dem Onkel darfste tanzen!' Haste Töne? So'n Luder! [Und der andere?] Das war'n junger Kerl! Hübscher Kerl war das, großer, schlanker, hübscher junger Mensch!”


Mutti ist doch eine arme Frau!”

[Fortsetzung von oben:] “Und als wer dann nach Hause wieder fuhren. mit'm Zug nach Nordhausen..., und da mussten wer noch'n Stück mit'er Elektrischen [Straßenbahn] fahren. Und da hat se rote Bäckchen und ist so glücklich. 'Vati, mein Vati seh ich wieder!' Ich sage: 'Der Vati is nicht zuhause. Der muss arbeiten!' Sie wuste ja wo's Lokal war. War ja immer mitgegangen mit ihm. Kannte doch. Und da sagt se: 'Mutti! Nein, ich will nicht nach Hause! Ich will zum Vati!' Und nun macht se so'n Theater inne Elektrische und ich sare: 'Na ja, is gut, wir gehen zum Vati.'

Na, bin ich mit ihr hinstolziert. Musste mal denken – der hohe Schnee! Ich hab se auf'n Arm genommen. Großer Gott nein! Die Kälte und alles! Und wie wer da reinkommen ins Lokal – und war alles voll; wurde ja auch getanzt, ne. Und mein Willy der bediente da nun; und da rief se: 'Vati, Vati! Deine Annie is wieder da! Oh Vati! So'ne Menge Schnee draußen!' Und er wurde nun ganz irritiert durch den Kram und musste doch nun servieren. Und da sagten die andern: 'Lassen se doch die Herrschaften! Gehn se doch erstmal hin nach der Kleinen! Die ist ja süß.' Und so ging das nun.

Na, da kam er an. 'Vati! Deine Annie ist wieder da! Vati, freuste dich denn auch?' 'Ja. Ich freue mich auch! Aber jetzt musste ins Bett gehen.' 'Jetzt kann deine Annie schlafen,' sagt se, 'aber wenn se'n Vati nicht sieht, dann kann se nich schlafen. Vati, nun komm doch, du brauchst doch hier nicht arbeiten!' Und die Leute nun alle. Und sie: 'Ja, Monni, Vati! Gell? Monni, Monni! Die Mutti is doch eine arme Frau!' Die haben Tränen gelacht, die Leute. 'Das is aber eine!' ...'n Bärenheft war das.”


(Vati)



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(Vorwort, Karte, Inhalt)

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